Riemann: Klavierschule op. 39,1

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§ 4. Handhaltung. Fingerstellung.

<5> Die Hände werden auf die Klaviatur, zunächst auf die Tasten c-g und c"-g" so aufgelegt oder vielmehr mit gerundeten Fingern aufgesetzt, dass der 2., 3. und 4. Finger etwa die Mitte des über die Obertasten herausragenden Theils der Untertasten berühren, während die kurzen Finger, der Daumen und kleine Finger, die Tasten etwas mehr dem Ende zu treffen. [FN] Der dritte Finger und seine auf dem <6> Handrücken bemerkliche Sehne müssen der Richtung der Taste parallel stehen, während die übrigen Finger unbedeutend nach beiden Seiten abweichen. Kein Finger darf an den andern geklemmt werden. Ein sehr verbreiteter Fehler ist die Auswärtsneigung der Hände, das Umsinken derselben nach der Seite des kleinen Fingers; die Mittelfinger erhalten dadurch eine ganz schiefe Stellung, der ganze Anschlag wird schief und unzuverlässig, und die Entfernung des Knöchels des zweiten Fingers <7> vom Mittelgelenk des Daumens wird unnatürlich vergrössert. Das Handgelenk sei nie nach unten durchgedrückt, sondern eher ganz unbedeutend gehoben, sodass sich die Hand nach dem Mittelgelenk des dritten Fingers hin leicht abdacht. Die Knöchel dürfen bei Ruhelage der Finger weder herausstehen noch eingedrückt werden; sie sinken ein, sobald der Finger zum Anschlag gehoben wird, sie treten etwas heraus, wenn der Finger die Taste herabgedrückt hat. Nur bei dieser Art von Handhaltung haben <8> die Finger genügend freies Spiel; denn wenn die Knöchel in Ruhelage eingedrückt sind, so können die Finger nicht mehr genügend gehoben werden, wenn sie herausstehen, können sie nicht mehr genügend herabgeschnellt werden. Das Mittelgelenk der Finger 2-5 sei fast rechtwinkelig gebogen; nur Finger mit sehr weit vorgewachsenen Nägeln sind genöthigt, einen mehr stumpfen Winkel zu bilden. Die Vordergelenke seien ebenfalls etwas, aber nur wenig, nach aussen gebogen. Das so sehr verbreitete <9> Einknicken der Vordergelenke muss auf's strengste bekämpft kämpft werden; wo das energische Wollen des Schülers nicht ausreicht, nehme man seine Zuflucht zu Seebers Fingerbildner, (zu beziehen von C.F. Kahnt in Leipzig), besonders zur Korrektur einzelner Finger (am meisten neigt der zweite Finger zu diesem Fehler). Streng zu bekämpfen ist das matte Einsinken der Hand, noch schlimmer das krampfhafte Herabdrücken der Mittelband. Vielmehr ist darauf zu halten, dass die Mittelhand stets etwas hochgestellt wird, sodass die Stelle der inneren Handfläche, an welcher die drei Mittelfinger ansetzen, sich mindestens soweit von der Tastatur abhebt, dass sie in gleicher Höhe mit der inneren Seite des Mittelgelenks des dritten Fingers ist. Dadurch gleichen sich am ungezwungensten die Längenunterschiede der Finger aus, und die damit bedingte elastische geringe Anspannung ist das beste Vorbeugungsmittel gegen schlaffes Spiel. Die Anschlagstelle der dreigliederigen- Finger (2, 3, 4, 5) ist die Spitze, nicht der Ballen des letzten Gliedes; der patschende Anschlag mit dem Ballen ist schon des begleitenden Klappgeräusches wegen nicht gut zu heissen. Natürlich müssen die Nägel zur Ermöglichung des Spitzenanschlags ganz kurz gehalten werden: wer das Klavierspielen ernsthaft lernen will, muss auf die Zier langgepflegter Nägel verzichten. Besondere Sorgfalt verlangt die Haltung des Daumens. Bei vielen Klavierspielern bewegt sich derselbe unschön <10> und steif; die Ursache ist eine von Haus aus falsche Stellung und eine falsche Bewegung des Fingers. Die rechte Stellung des Daumens in Ruhelage ist eine stark von der Wurzel nach der Spitze hin geneigte, nicht aber horizontal auf der Taste liegende; die rechte Anschlagstelle ist nicht die ganze Seitenfläche des Nagelgliedes, sondern die äussere Seitenfläche der Spitze. Beide Gelenke sind leicht einzubiegen, sodass die Knöchel hervortreten, der Mittelknöchel weniger, der des Nagelgliedes mehr; das Mittelglied soll bei Quintenspannung der Hand den Tasten parallel laufen. Die Bewegung des Daumens im Wurzelgelenk ist eine drehende und zwar bewegt er sich beim Aufheben nach dem zweiten Finger zu, sodass der Vorderknöchel fast in gleiche Höhe mit dem Wurzelknöchel des zweiten Fingers kommt, und von oben betrachtet die Nagelfläche fast in ganzer Breite sichtbar wird.

Diese Art der Handhaltung ist die normale für das ruhige Legatospiel, besonders zunächst für die technischen Studien mit stillstehender Hand und in Quintenspannung. Alle anderen Arten der Haltung der Hand sind als Abweichungen von dieser normalen zu betrachten und werden unter "Anschlag" (§ 5) näher zu betrachten sein. Da es sich bei den ersten technischen Studien um die Ausbildung der Gleichheit und Selbständigkeit der Fingerbewegungen handelt, so hat das Handgelenk mit diesen Übungen nichts zu thun und ist ganz elastisch zu fixiren, d.h. die Hand ruht nicht auf dem jedesmal spielenden Finger, sondern wird vom Arm getragen. Erst wenn es gilt, das singende Legato auszubilden und ein gutes Crescendo herauszubringen, darf das Handgelenk freigegeben werden; der Schwerpunkt der Hand verrückt sich dann stets nach dem jedesmal spielenden Finger. Die Neigung, den Schwerpunkt der Hand stets in der Nähe des Daumens zu belassen und die mehr nach dem kleinen Finger zu gelegenen Töne gleichsam von dort aus zu spielen, also ohne Betheiligung der ganzen Hand, ist entschieden als fehlerhaft zu bezeichnen. Eine äusserst leichte Verschiebbarkeit des Handgewichts ist vielmehr ein mit allen Mitteln zu erstrebendes Ziel. Gleichmässiges vollsaftiges Passagenspiel ist nur auf diese Weise mit Sicherheit zu erreichen.

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