Riemann: Klavierschule op. 39,1

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Kap. 7 [Seite 3 von 4]

Eine wichtige Grundregel aller Fingersetzung auf dem Clavier ist erst in neuerer Zeit unumwunden aufgestellt worden,[FN: Fétis, Méth. des Méth. S. 42 ff.] dass nämlich gleiche Tonfiguren mit dem gleichen Fingersatze gespielt werden sollen. (Vergl. Materialien, 2. Heft. Abth. 22, No. 479-484.) Früher liess man diese an und für sich einleuchtende Regel nur gelten, sofern nicht dabei der Daumen und kleine Finger auf Obertasten kamen; heute fordert man ihre ausnahmslose Durchführung, wenigstens wo es sich um Gänge handelt, welche aus kurzen sequenzartig stufenweise steigenden oder fallenden Figuren zusammengesetzt sind. Denn so ganz und gar lässt sich das Faktum doch nicht ignoriren, dass die Obertasten kürzer und darum durch die kurzen Finger (1 und 5) nur erreichbar sind, wenn die Hand merklich vorgeschoben wird. Der Anfänger zumal darf noch nicht stolz die Unebenheiten der Klaviatur ignoriren, sondern muss sie vor allen Dingen erst genau kennen lernen. Der Ortssinn auf dem Clavier entwickelt sich zunächst gerade an der Unterscheidung der Obertastengruppen, eine mittelmässige Geläufigkeit und Treffsicherheit ist zunächst nur zu erwerben, indem man die Hindernisse als Hindernisse anerkennt und mit ihnen rechnet. Ein Blick auf unsere Hand, wenn wir die fünf Töne e fis gis ais h mit 1 2 3 4 5 greifen, belehrt uns zur Evidenz, dass die Hand sich in einer natürlichen, angemessenen Lage befindet, das sich die kurzen Finger bequem auf den vorstehenden Untertasten, die langen Finger ohne Zwang auf den zurückliegenden Obertasten bewegen können. [FN] Es gehört bereits <28> ein gewisser Grad von Virtuosität dazu, wenn man es unternehmen will, in allen Lagen die musikalisch analog gebildeten Figuren auch technisch gleich zu behandeln. Auf alle Fälle aber muss auch der vollendete Virtuose, welcher ohne Gefahr in allen Lagen spielt, zugeben, dass sein Standpunkt das Resultat mühsamen Ringens ist, dass er die Hindernisse zuerst überwinden lernen musste, ehe er dahin kam, sie ignoriren zu dürfen. Es ist Aufgabe der Schule, den Weg zu dieser Meisterschaft zu zeigen und also zunächst den Schüler mit der Natur dieser Hindernisse bekannt zu machen; das thut sie am schnellsten, wenn sie dieselben in einer Form in den Übungen einführt, welche sie nicht als Hindernisse sondern als Stütz- und Orientirungspunkte erscheinen lässt. Eins ist nämlich nicht zu Übersehen: die herabgedrückte Obertaste liegt gerade noch um ebensoviel über der herabgedrückten Untertaste als die ruhende Obertaste über der ruhenden Untertaste liegt. Die Unebenheiten der Klaviatur existiren also nicht nur vorm Anschlag, sondern auch nach demselben. Die herabgedrückte Obertaste befindet sich ungefähr gerade im Niveau der ruhenden Untertaste; und wenn ich z.B. fis mit dem 3. Finger herabgedrückt habe, so bleibt dem etwa für g bestimmten Daumen erheblich mehr Spielraum unter dem 3. Finger oder etwa nach f; am krassesten aber tritt der Unterschied hervor, wenn man die Tonfolge eis fis mit 3 1 in der rechten Hand spielt. Hieraus ergiebt sich eine allgemeine Regel für alle Fingersetzung, nämlich: nach Möglichkeit den Daumen dann zu gebrauchen, wenn auf eine Obertaste eine Untertaste folgt. [FN] Gleichermassen ist es vortheilhaft überzuschlagen, wenn nach einer Untertaste eine Obertaste folgt, z.B.

rechte Hand 1   4
g - fis

Denn da der überschlagende Finger den Weg von seinem natürlichen Platze zur entgegengesetzten Seite des Daumens zurückzulegen hat, so ist es ein Gewinn, wenn er nur bis zur nächsten Obertaste zu greifen braucht, welche näher liegt als die nächste Untertaste. Nur für b-c (ais-his), h-cis (ces-des), es-f (dis-eis) und e-fis (fes-ges) ist dieser Vortheil nicht vorhanden, da bei diesen Folgen die Obertaste jenseits der nächsten Untertaste liegt. Wenn trotzdem von der rechten Hand bei allen <29> Tonleitern, in denen b-c und es-f vorkommt und von der linken gleichermassen in allen, in denen fis-e und cis-h vorkommt, gerade an diesen Stellen untergesetzt und übergeschlagen wird, so ist es ein anderer Grund als die grössere Bequemlichkeit, welcher diese Applikatur wählen lässt: um nicht Über den jedesmaligen Fingersatz nachdenken zu müssen, sondern ganz mechanisch immer denselben zu nehmen, hält man ganz allgemein an dem Prinzipe fest, nach einer Obertaste auf eine Untertaste unterzusetzen, nach einer Untertaste auf eine Obertaste überzuschlagen. (Darum ist c-Dur bezüglich der Applikatur die schwerste Tonart, weil ihre Tonleiter der Obertasten ganz entbehrt. [FN] Hier sehen wir also, dass um eines grösseren Vortheils willen eine kleine Unbequemlichkeit in Kauf genommen wird. Ähnlich aber haben wir es aufzufassen, wenn später der Gleichheit des Fingersatzes wegen in Sequenzenpassagen für allerlei Lagen dieselben Finger genommen werden.

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