Riemann: Klavierschule op. 39,1

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§ 11. Phrasierung. Ausdruck.

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<40> Trotz der nun längst vergessenen Bemühungen von J.A.P. Schulz [FN] und D.G. Türk <41> war die Lehre von der Phrasierung bisher kaum mehr als eine etwas dunkle Redensart; in der vorliegenden Schule ist zum ersten <42> Male versucht, dieselbe systematisch zu bearbeiten. Bereits der Elementarschüler soll lernen, die Noten gruppenweise aufzufassen, <43> wie sie zusammengehören. Leider haben die Herausgeber der Classiker und Schulwerke hier viel gesündigt und selbst die <44> Componisten sind nicht freizusprechen vom Vorwurfe mangelnder Accuratesse in der Bezeichnung der Phrasierung. Da wir leider <45> nicht mit dieser Schule zugleich einen Neuabdruck sämmtlicher für das Studium empfohlenen Werke mit verbesserter Phrasenbezeichnung [FN: ...] geben können, so müssen wir uns begnügen, auf die systematische Entwickelung des Verständnisses der Phrasirung zu verweisen, welche die Elementarlehre anbahnt, sowie auf die weiterhin beigefügten Musterbeispiele. Zusammenfassend und ergänzend sind die Hauptgesichtspunkte etwa in folgender Weise zu formulieren:

Musikalische Themen bestehen aus einer Anzahl deutlich erkennbarer Glieder, die bald grösser bald kleiner, bald loser, bald fester gefügt sind; man nennt dieselben Phrasen.

Harmonisch kennzeichnet sich das Ende der Phrase gewöhnlich durch einen Schluss, Halbschluss oder Trugschluss, melodisch durch eine Unterbrechung des melodischen Flusses (Pause, Sprung, längere Note); in metrischer Beziehung bestimmt sich das Ende der Phrase durch die Gestalt der Taktmotive, welche ihr zu Grunde liegen (mehr oder minder auftaktig vgl. Elementarlehre Kap. 4-5). Es gilt daher immer erst, sich über die Form der Taktmotive klar zu werden; wenn dieselben auch vielfach wechseln, so wird doch für ein Thema oder einen Theil eines solchen meist eine bestimmte Form der Auftaktigkeit mit oder ohne weibliche Endungen charakteristisch sein. Die Länge der Phrase kann sehr verschieden sein; bei zusammengesetzten Taktarten sind sie manchmal nur halbtaktig, aber sie können auch ganze Reihen von Takten umfassen. Unter "Stil" wurde bereits darauf hingedeutet, dass die Phrasierung insofern verschiedenartig möglich ist, als man längere oder kürzere Phrasen annehmen kann; jene sind dem seriösen, letztere dem capricciösen Stil <46> eigenthümlich. Der letztere geht manchmal soweit, dass er die Untertheilungen der Taktglieder (Zähleinheiten) selbständig phrasirt.

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