Etuden für das Pianoforte [Kreisig 102]

[Auszug]

<IV,115>[...]

F. Liszt, Bravourstudien nach Paganini's Capricen für das Pianoforte bearbeitet. (2 Abtheilungen.)

<IV,121> Das Originalwerk heißt: 24 Capricci per Violino solo composti e dedicati agli artisti da N. Paganini. Oe. 10 Eine Bearbeitung von zwölf von ihnen durch Robert Schumann erschien in 2 Heften bereits in den Jahren 1833 und 35. Auch in Paris erschien ein Arrangement einzelner, des Namens des Bearbeiters erinnert sich Ref. nicht mehr. Die Liszt'sche Sammlung enthält 5 Nummern aus den Capriccis, die 6te ist eine Bearbeitung des bekannten Glöckchenrondos. Es kann hier von keiner pedantischen Nachbildung, einer blos harmonischen Ausfüllung der Violinstimme die Rede sein; das Clavier wirkt durch andere Mittel, als die Violine.

Gleiche Effecte, durch welche Mittel auch, hervorzubringen, war hier die wichtigste Aufgabe für den Bearbeiter. Daß sich Liszt aber auf die Mittel und Effecte <IV,122> seines Instruments versteht, weiß Jeder, der ihn gehört. Es muß also gewiß vom höchsten Interesse sein, die Compositionen des, was kühne Bravour anbetrifft, größten Violinvirtuosen des Jahrhunderts, Paganini, durch den kühnsten Claviervirtuosen der Jetztzeit, Liszt, ausgelegt zu erhalten. Ein Blick in die Sammlung, auf das wunderliche, wie umgestürzte Notengebälke darin, genügt dem Auge, sich zu überzeugen, daß es sich hier um nichts Leichtes handelt. Es ist, als ob Liszt in dem Werke alle seine Erfahrungen niederlegen, die Geheimnisse seines Spieles der Nachwelt überliefern wollte; er konnte seine Verehrung für den großen verstorbenen Künstler nicht schöner bethätigen, als durch diese bis in's Kleinste sorgfältig gearbeitete, wie den Geist des Originals auf das Treueste wiederspiegelnde Uebertragung. Wenn die Schumann'sche Bearbeitung mehr die poetische Seite der Composition zur Anschauung bringen wollte, so hebt Liszt, aber ohne jene verkannt zu haben, mehr die virtuosische hervor; er bezeichnet die Stücke ganz richtig mit "Bravour-Studien", wie man sie wohl auch öffentlich damit zu glänzen spielt. Freilich werden's ihrer Wenige sein, die sie zu bewältigen verständen, vielleicht nicht Vier bis Fünf auf der ganzen weiten Welt. Dies kann aber nicht abhalten, die Sache zu behandeln, als existire sie nicht. Den höchsten Spitzen der Virtuosität freut man sich wohl auch in einiger Entfernung nahe zu sein. Betrachten wir manches in dieser Sammlung Enthaltene freilich genauer, <IV,123> so ist kein Zweifel, daß der musikalische Grundgehalt mit den mechanischen Schwierigkeiten oft in keinem Verhältnisse steht. Hier aber nimmt das Wort "Studie" vieles in Schutz. Ihr sollt euch eben üben, gleichviel um welchen Preis.

Sprechen wir es also aus, daß diese Sammlung vielleicht das Schwierigste ist, was für Clavier je geschrieben, eben so wie das Original das Schwierigste, was für Violine. Paganini wollte dies wohl auch mit seiner schön kurzen Dedication "agli artisti" ausdrücken, d.h. nur für Künstler bin ich zugänglich. Und so ist es auch mit der Clavierstimme Liszt's; Virtuosen von Fach und Rang allein wird sie einleuchten. Dies der Standpunct, von dem diese Sammlung zu beurtheilen ist. Eine zergliedernde Untersuchung übrigens des Originals mit der Bearbeitung müssen wir uns versagen, sie würde zuviel Raum kosten. Beide in den Händen, geht es am besten. Interessant ist die Vergleichung der ersten Etude mit ebenderselben nach der Schumann'schen Bearbeitung, zu der Liszt selbst durch Abdruck der letzteren, Tact für Tact, sinnig auffordert. In der italiänischen Ausgabe ist es die 6te Caprice. Die letzte Nummer bringt die Variationen, die auch die Originalausgabe beschließen, dieselben, die H.W. Ernst zu seinem "Venezianischen Carnaval" angeregt haben mögen; die Liszt'sche Bearbeitung halten wir für das musikalisch Interessanteste des ganzen Werkes; aber auch hier finden sich, oft im kleinsten Raume von einigen Tacten Schwierigkeiten <IV,124> der immensesten Art, der Art, daß wohl Liszt selbst daran zu studiren haben mag. Wer diese Variationen bewältigt, und zwar in der leichten neckenden Weise, daß sie, wie es sein soll, gleich einzelnen Scenen eines Puppenspiels an uns vorübergleiten, der mag getrost die Welt bereisen, um mit goldenen Lorbeeren ein zweiter Paganini-Liszt zurückzukommen.

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