Anna Maria ["Nanette"] Streicher: Klaviervirtuosen im frühen 19. Jahrhundert.

Vorbemerkung:

Nanette Streicher (1769-1833) war die Tochter des Augsburger Klavierbauers Johann Andreas Stein. Von ihrem Vater erhielt schon früh Klavierunterricht und wurde von ihm auch im Klavierbau unterwiesen, so daß sie die Werkstatt auch nach dem Tod des Vaters weiterführen konnte. 1794 heiratete sie den Musiker Johann Andreas Streicher und übersiedelte nach Wien. Seit 1802 baute sie die Klaviere unter ihrem eigenen Namen "Nanette Streicher geb. Stein". Der Betrieb wurde zu einem der bedeutendsten Klavierbauunternehmen im deutschsprachigen Raum. Der Klaviersalon von Nanette und Andreas Streicher war in Wien eine wichtige kulturelle Einrichtung. Das Ehepaar pflegte Freundschaft mit zahlreichen Künstlern, u.a. mit Beethoven, Goehte und Grillparzer.

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus einer Publikation Nanette Streichers "über das Spielen, Stimmen und Erhalten der Pianoforte", veröffentlicht in Wien 1801. - Ähnlichkeiten mit heute lebenden Pianisten sind rein zufälliger Natur

Klaviervirtuosen im frühen 19. Jahrhundert.

Es sey erlaubt, diesem Bilde ein anderes gegen über zu stellen, welches zwar nicht nachahmungswürdig ist, aber wenigstens doch zur Vermeidung des Fehlerhaften dienen kann.

Ein Spieler mit dem Rufe: »er spiele ausserordentlich, so etwas habe man nie gehört«, setzt sich, (oder wirft sich) zum Fortepiano. - Schon die ersten Accorde werden mit einer Stärke angegeben, dass man sich frägt: ob der Spieler taub sey, oder seine Zuhörer dafür halte? Durch die Bewegung seines Leibes, seiner Arme und Hände, scheint er uns begreiflich machen zu wollen, wie schwer die Arbeit sey, welche er unternommen habe. Er geräth in Feuer, und behandelt sein Instrument gleich einem Rachsüchtigen, der seinen Erbfeind unter den Händen hat, und mit grausamer Lust ihn nun langsam zu tode martern will. Er will Forte spielen, allein da er schon im Anfang die Töne übertrieben, so kann er keinen höhern Grad von Stärke mehr heraus bringen. Er haut also, und hier verstimmen sich plötzlich die misshandelten Saiten, dort fliegen einige unter die Umstehenden, welche sich eilig zurück ziehen, um ihre Augen in Sicherheit zu setzen. Bey dieser einzelnen Note steht ein Sforzando! - Glücklicher Weise hält der Hammer, hält die Saite noch aus. Aber hören Sie, wie der Ton knirrscht, wie schmerzlich er dem Ohre fällt! Leidenschaftliches Feuer verwandelt er zur Wuth, die sanften Empfindungen drückt er durch kaltes Spielen aus. - Da er alles auf einen höhern Grad spannt, so ist es natürlich, dass er das Fortepiano bey dem Ausdrucke des Schmerzens schreyen und heulen lässt, und beym raschen, freudigen Gang der Musik, Tasten und Hämmer lahm schlägt.

Schatten und Licht - in einander verschlungenes Wachsen und Abnehmen der Töne, ist für ihn zu kleinlich: diess gehört nur für Weiber. Jetzt kommt ein Crescendo; Schade, dass man nichts davon gewahr wird, weil nur die erste Note schwach, die zweyte aber schon wieder zu stark war.

Doch! - Nun kommt das Adagio! Nähern Sie sich, schöne Zuhörerinnen, er will mit den Ellenbogen zu ihnen sprechen! -

Sehen Sie nicht, wie schmachtend er diese gegen sie ausstreckt, wie das übermächtige Gefühl sich des Leibes und der Arme bemeistert hat? Leider! hören die rückwärts Sitzenden nichts, von diesem nur sichtbaren Ausdruck, auch können sie sich die undeutlichen, stammelnden Töne gar nicht erklären. Aber warum hat auch der Spieler ein so eigensinniges Instrument, das nur seinen Fingern, aber nicht seinen Gestikulationen gehorchen will? Warum sind die Kräfte der Natur und Kunst zu klein, um so ein mächtiges Gefühl überall hinströmen lassen zu können?

Jetzt spielt er mit der Begleitung des Orchesters, und gibt sich alle Mühe, mit seinem einzelnen Fortepiano alle übrigen Instrumente auch im stärksten Tutti zu überschreyen.

Nun accompagnirt er den Sänger! Wehe diesem! Kein Ton wird aus seiner Kehle kommen, dem nicht einige gehackte Noten in den Weg geworfen werden.

Puf! was war das? Er hat die Dämpfung in die Höhe gehoben; da ihm aber nichts so geläufig ist als Gewalt, so hat er sie an das Clavier gestossen. Jetzt will er die Harmonika nachahmen, aber er bringt nur herbe Töne heraus: consonirende und dissonierende Accorde fliessen unter einander, und wir bekommen nur ein widerliches Gemengsel zu hören.

Kurze Noten stösst er mit Arm und Hand zugleich polternd ab. Soll er Töne zusammen ziehen (schleifen), so vermischen sie sich untereinander, weil er nie einen Finger zur rechten Zeit aufhebt. - Sein Spiel gleicht einer Schrift, welche man bey noch nicht trockener Tinte, auswischt.

Man erwarte kein wohltuendes Piano! muss er es auch einige Tacte lang spielen, so wird er den angenehmen Eindruck mit den Spitzen seiner grellen Töne schon wieder zu tödten wissen.

Matt, erschöpft, wie wenn er Eichbäume hätte ausreissen wollen, steht er endlich auf, und hinterlässt das arme Fortepiano, (für welches sein Besitzer bey jedem Anschläge gezittert,) in einem Zustande, welchen die Wuth eines Barbaren nicht hätte schlimmer machen können. -

Man hat von Glück zu sagen, wenn mit einem halben Dutzend Saiten dem Schaden noch abzuhelfen ist, und nicht abgeschlagene Tangenten und Hämmer zerstreut umherliegen.

Bemerkt er die üble Wirkung auf die Zuhörer, (wer sollte ihn auch bewundern können!) so ist er artig genug, die Schuld dem schlechten Instrumente beyzumessen, auf welchem sich nicht mit Feuer und Ausdruck spielen lasse.

Quellenbeleg:

Nanette Streicher: Kurze Bemerkungen über das Spielen, Stimmen und Erhalten der Pianoforte. Wien 1801. Faksimile: Stichting voor Muziekhistorische Uitvoeringspraktijk (Foundation for Music Historical Performance Practice), Utrecht 1987.