Tempus est iocundum
(Carmina Burana)

Dieser Beitrag ist entstanden als Sendemanuskript
für den Süddeutschen Rundfunk, Stuttgart
(Alte Musik kommentiert, 15.2.1994)

Musik-Nr.: 01
Komponist: Carl Orff
Werk-Titel: Carmina burana
Auswahl: In taberna quando sumus <Track __.> __:__
Interpreten: xx
Label: Name (LC ____)
____
<Track __ Gesamt-Zeit: __:__

Als die Film- und Fernsehwerbung vor gut anderthalb Jahren die Orff'sche "Carmina Burana" zur Umsatzsteigerung von Autos, Pfandbriefen und Müsli-Riegeln eingesetzt hatte, avancierten die rhythmisch effektvollen Chorsätze innerhalb kürzester Zeit zu hit-verdächtigen Ohrwürmern. Was darüber allzugerne vergessen wurde: Daß Carl Orff nicht der erste war, der die Texte der "Carmina Burana" in Musik gesetzt hat.

Die lateinischen Gedichte stammen aus der Zeit um 1200 - sie sind also gut 800 Jahre alt -, und sie waren wohl schon damals mehr für den öffentlich-unterhaltsamen Vortrag gedacht als für die besinnliche Lektüre im Kaminzimmer. Ein Indiz dafür ist, daß viele der Gedichte mit Neumen versehen sind, mit mittelalterlichen Notenzeichen, so daß wir uns halbswegs eine Vorstellung davon machen können, wie die "Carmina burana" damals erklungen sind. Hier das soeben gehörte Orff'sche "In taberna quando sumus" in der mittelalterlichen Version - in einer Interpretation mit dem Clemencic-Consort.
Musik-Nr.: 02
Komponist: unbekannt
Werk-Titel: Carmina burana
Auswahl: In taberna quando sumus <CD 1, Tr. 7.> 2:40
Interpreten: Clemencic Consort
Ltg.: René Clemencic
Label: HMF (LC 7045)
190336.38
<CD 1, Tr. 7.> Gesamt-Zeit: 2:40
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Der Titel "Carmina Burana" heißt nichts anderes als "Gedichte aus Kaufbeuren". 1803 wurde die mittelalterliche Handschrift zufällig in der Bibliothek des Klosters von Kaufbeuren in Bayern entdeckt, und erst damals erhielt sie jenen Namen, unter dem sie heute weltberühmt ist. Wer die Gedichtsammlung zu Beginn des 13. Jahrhunderts zusammengetragen hat, und wer die Handschrift in Auftrag gegeben hat, ist nicht bekannt; auch kennen wir nur wenige der Textdichter mit Namen und keinen einzigen Komponisten.

Sprache und Inhalt weisen jedoch darauf hin, daß Autoren wie Autraggeber über ein gewisses Maß an Bildung verfügt haben müssen: Latein war die Sprache der Theologie und aller übrigen Wissenschaften; und allenthalben finden sich in den Texten Anspielungen auf die Heroen der griechischen Mythologie, wie auch die kirchlichen Mißstände angeprangert werden: Immer wieder ist davon die Rede, wie einträgliche Kirchenämter verschachert werden und welches "Lotterleben" in den Klöstern und Pfarrhäusern herrscht.

Der Verfasser der "Carmina burana" also ein asketischer Moralapostel? - Mitnichten! Das Trinklied "Alte clamat Epicurus" ist ein aufrichtiges Loblied auf das gute Klosterleben - in freier deutscher Übersetzung:

Laß von Epikur dir sagen:
"Satter Bauch schafft Wohlbehagen.
Ja, mein Gott soll mir der Bauch sein,
und die Gurgel will mir's auch sein,
dessen Tempel meine Küche
voller leckrer Wohlgerüche.

Dieser Gott fällt nicht zu Lasten,
laß ich ihn nicht lange fasten,
und vor'm Frühstück, vor der Mette,
rülpst er schon vom Wein im Bette,
sein Altar wie auch sein Becher
sind die Seligkeit der Zecher.
[...]

Doch verdank ich diesem Kulte
tief im Magen oft Tumulte,
wenn dort unter lauter Krämpfen
Wein und Bier im Bauche kämpfen;
welch ein Leben voll Behagen:
tätig ist allein der Magen.
[...]

Musik-Nr.: 03
Komponist: unbekannt
Werk-Titel: Carmina burana
Auswahl: Alte clamat Epicurus <Track 11.> 5:50
Interpreten: New London Consort
Ltg.: Philip Pickett
Label: L'oiseau lyre (LC 0171)
417 373-2
<Track 11.> Gesamt-Zeit: 5:50
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Wenn im Mittelalter von Klerikern und Mönchen, fahrenden Scholaren, Vaganten und Studenten die Rede ist, so dürfen wir uns nicht die geordneten Verhältnisse der Neuzeit vorstellen, sondern allenfalls die Situation eines akademischen Proletariats. Wer keine Hoffnung hatte, von seinem Vater ein Sück Land zu erben, wer sich nicht als Tagelöhner verdingen wollte und einigermaßen "clever" war, der eignete sich das Lesen und Schreiben an sowie ein paar Brocken Latein und studierte. Das heißt: Man zog von Stadt zu Stadt in der Hoffnung, irgendwo sein Auskommen als Kleriker, als Kanzleischreiber oder Quacksalber zu finden - oder man erweiterte zumindest sein Wissen und seine gesellschaftlichen Kontakte bei den sogenannten "Lectiones", den Vorlesungen der Professoren, um dereinst vielleicht selbst Karriere als Hochschullehrer zu machen.

Wer Mönch wurde und das Keuschheitsgelübde ablegte, wurde also nicht unbedingt von Enthaltsamkeit und Frömmigkeit getrieben, sondern er hatte lediglich das Glück, daß im entsprechenden Kloster gerade eine Zelle frei war oder eine weitere Arbeitskraft gebraucht wurde. Besser als von Stadt zu Stadt und von Kneipe zu Kneipe zu ziehen, war das gesicherte Leben im Kloster allemal.

Wenn man sich diese Lebensumstände vor Augen hält, verwundert es nicht, wie freizügig sich das Klosterleben mitunter gestaltete. Und falls der Abt sich doch einmal sittenstrenger gebärdete als erwartet, so konnte ein Mönch immer noch Reißaus nehmen oder sich in seiner Klausur zumindest an Liedern ergötzen wie dem folgenden "Tempus est iocundum":

Wonnevolle Zeiten
mit lauter neuen Freuden.
Schönste hier im Garten,
deiner will ich warten.
Deine Unschuld treibt mich hin und her,
deine Anmut bleibet mein Begehr.
Oh! was beglückt mich so?
Mein Sehnen lodert lichterloh,
die heiße Liebe zehrt wie Stroh
[...]

Musik-Nr.: 04
Komponist: unbekannt
Werk-Titel: Carmina burana
Auswahl: Tempus est iocundum <Track 14.> 3:10
Interpreten: New London Consort
Ltg.: Philip Pickett
Label: L'oiseau lyre (LC 0171)
417 373-2
<Track 14.> Gesamt-Zeit: 3:10
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Der Gerechtigkeit halber muß gesagt werden, daß nicht alle Texte der "Carmina burana", der Gedichte aus dem Kloster Kaufbeuren, von der Liebe und vom Trinken handeln. Der Verfasser der Handschrift hat seine Arbeit mit Bedacht in verschiedene Kapitel unterteilt: Neben den "Carmina gulatorum", den "Liedern für die Gurgel", gibt es auch eine Messe, ein Passionsspiel sowie eine Abteilung mit "moralischen und heiligen Gedichten".

Aber selbst in diesen religiösen Kapiteln scheint der Schalk die Feder zu führen: Die Messe ist überschrieben als "Gauklermesse"; im Passionsspiel gibt es einen ausgedehnten Dialog zwischen der Prostituierten Maria Magdalena und ihrem Kosmetik-Händler, mit welchen Cremes und Parfums "Frau" am besten die Männer verführt; und die "moralischen Gedichte" schildern mit weitaus größerem Enthusiasmus die Sittenlosigkeit als daß sie (in nu knappen wenigen Sätzen) das Lob der Tugend singen.

Eine Ausnahme bilden lediglich die Lieder, die um das Thema "Simonie" kreisen: die Vergabe geistlicher Ämter gegen Geld. Der Begriff "Simonie" leitet sich her von dem Magier Simon, über den in der Apostelgeschichte berichtet wird:

Als er sah, daß der Heilige Geist gegeben ward, wenn die Apostel die Hände auflegten, bot er ihnen Geld und sprach: "Gebt mir auch die Macht, daß, sobald ich jemandem die Hände auflege, derselbe den Heiligen Geist empfange".

Vor allem dem niederen Klerus war der Ämter-Schacher der oberen Zehntausend ein Dorn im Auge, weil er den Geistlichen ohne Vermögen keinerlei Möglichkeit gab, selbst auf der Karriere-Leiter nach oben zu steigen. In dem Gedicht "Licet eger cum egrotis" beklagt der französische Dichter Dichter Walther von Châtillon:

Des Priesterstands geweihter Orden
ist ein Kind der Welt geworden.
Christi Braut, um die sie raufen,
sieht man auf den Jahrmarkt laufen.
Käuflich ist heut der Altar,
käuflich ist die Hostie gar,
Gnade, allen Wertes bar,
kann man feilschend kaufen.
Schlimm ist, was ich offenbare:
Heil'ges Öl ist Handelsware.
[...]

Und kein Tod kann sie verdrießen:
Freudenfeste voller Hohn
freun den Bischof auf dem Thron,
um für Geld und gold'nen Lohn
heillos zu genießen.

Musik-Nr.: 05
Komponist: Walther von Châtillon
Werk-Titel: Carmina burana
Auswahl: Licet eger <CD 1, Tr. 14.> 5:45
Interpreten: xx
Label: HMF (LC 7045)
190336.38
<CD 1, Tr. 14.> Gesamt-Zeit: 5:45
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