Dinu Lipatti - Künstler von göttlicher Geistigkeit

Dieser Beitrag ist erstmals erschienen in:
PianoForte. Zeitschrift für Klaviere und Flügel, Jg. 1 (1991), Heft 1, S. 26-35.

Biographie
Diskographie (Auswahl)
Literatur (Auswahl)

Es war nicht mehr Klavierspiel, es war Musik, losgelöst von jeder Erdenschwere, Musik in ihrer reinsten Form, in einer Harmonie, wie sie nur jemand geben kann, der schon nicht mehr ganz unter uns weilte.
(Herbert von Karajan über Dinu Lipatti)

Biographie

Kaum ein Pianist unseres Jahrhunderts dürfte mit soviel Ehrfurcht genannt werden, wie der 1950 verstorbene Dinu Lipatti. Für den Komponisten Frank Martin war er von der Aura des Entrückten, Unirdischen gezeichnet, und Francis Poulenc sah in ihm einen Künstler von göttlicher Geistigkeit. Jeder Zeitgenosse, der es nur irgendwie legitimieren konnte, gab vor (wie Karajan), in Lipattis Interpretationen die Tragik seines Todes schon frühzeitig herausgehört zu haben. Sie alle haben an dem Heiligenschein des Pianisten mitpoliert: die Künstlerkollegen, die Journalisten und nicht zuletzt die Schallplattenindustrie. Der Dirigent Paul Sacher spürte schon zu Lipattis Lebzeiten, daß sein Leben unter dem Zeichen der Gnade stand. Man mußte Einkehr halten, wenn er einen anschaute, man mußte auf alles Vorläufige, Scheinbare verzichten; alles wurde in seiner Gegenwart durchsichtig, wußte Carl-J. Burckhardt voller Ehrfurcht zu berichten. Und in Covertexten schließlich liest man von der keuschen Luzidität (Transparenz) seiner Interpretationen: Lipatti als Märtyrer, der noch einmal die wahrhaft magische und doch so humane Kunst seines Spiels beschwört.

Indes - je weihevoller die Lobeshymnen, je penetranter der Anspruch auf die künstlerische Berufung, desto skeptischer ist man gemeinhin gestimmt. Aber grenzt angesichts solch durchdringender Vergeistigung eine unvoreingenommene Annäherung nicht schon an Blasphemie? Darf man, was da in den medienwirksamen Weihrauch des einmalig Göttlichen eingehüllt ist, überhaupt noch anzweifeln?

Oder anders gefragt: Läßt sich die Faszination, die von dem Musiker Lipatti ausging, auch heute noch nachvollziehen? Ein Versuch bietet sich an; immerhin ist seine künstlerische Hinterlassenschaft vergleichsweise überschaubar. Im Handel erhältlich sind derzeit rund sieben Stunden Musik, davon Etliches in doppelter Ausführung, als Studio-Produktion und Konzertmitschnitt. Entsprechend schmal ist auch das eingespielte Repertoire: Bach (mit Vorliebe in Bearbeitungen), zwei Scarlatti-Sonaten, Schubert-Impromptus, einzelne Werke von Liszt, Ravel und Enesco, ein wenig Mozart, die Klavierkonzerte von Schumann und Grieg, und vor allem Chopin. Beethoven hingegen fehlt ganz. Nur zögernd näherte Lipatti sich dem "Neuen Testament" der Klavierspieler an; von den 32 Sonaten hat er nur die "Waldsteinsonate" öffentlich gespielt.

Fast möchte es scheinen, als habe Lipatti sich allzulange an der pianistischen Peripherie bewegt, als sei es ihm nicht mehr vergönnt gewesen, zum eigentlichen Kern des Klavier-Repertoires vorzustoßen. Es war die Zeit, die gegen ihn arbeitete. Als der Produzent der englischen Columbia Walter Legge ihn 1946 für die Schallplatte "entdeckte", hatten sich bereits die ersten Anzeichen einer Leukämie bemerkbar gemacht, so daß Lipatti Manches (wie etwa die kräftezehrenden "Symphonischen Etüden" von Schumann) aus seinem Repertoire streichen mußte. Eile wäre angebracht gewesen, auf Schallplatte zu bannen, was noch realisierbar war. Aber stattdessen forderte er Geduld. Vier Jahre veranschlagte er für Beethovens Es-Dur-Konzert, und an dem Tschaikowsky-Konzert, dem Schlachtroß aller Pianisten, wollte er mindestens noch drei Jahren arbeiten. Ihm genügte es nicht, ein Werk zu kennen; er brauchte das Gefühl, jede Note zu verstehen; was er seinen Schülern mit den Worten umschrieb: Es ist nicht nur wichtig, daß Sie die Komposition lieben. Drängen Sie nicht, denn das Stück muß Sie ebenfalls lieben.

Sich Zeit zu nehmen war die künstlerische Maxime, die er von seinen ersten Lehrern in Bukarest, dem Komponisten Mihail Jora und der Pianistin Florica Musicescu, gelernt hatte. Sie machten ihrem Schüler von Anbeginn klar, daß Kunst viel mit Arbeit und eiserner Disziplin zu tun hat, und verboten ihm aufzutreten, solange er nicht die nötige künstlerische Reife erreicht habe.

Lipatti hat diese strenge Haltung bis an sein Lebensende bewahrt. Was in seinen Einspielungen als intuitives Gestalten aus dem Augenblick heraus entgegentritt, ist in Wirklichkeit das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung - ein Prozeß, in dem musikalisches Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit zur Analyse von technischen Problemen und ihre Bewältigung zu einer Einheit verschmelzen. Noch in seinem letzten Konzert, dem legendären Besançon vom 16. September 1950, das er nur unter körperlichen Anstrengungen und Schmerzen zu Ende brachte, blieb keine Note dem Zufall überlassen; jedes Detail, jede Phrasierung erscheinen wohldurchdacht.

Das Konzert von Besançon zählt zu den großen Klavierabenden in der Musikgeschichte. Es wurde vom französischen Rundfunk mitgeschnitten, so daß sich auch heute noch nachvollziehen läßt, was in den vergangenen vier Jahrzehnten über dieses Ereignis geschrieben wurde: die Ruhe, die Bachs B-Dur-Partita ausstrahlt; wie Lipatti behutsam und doch bestimmt das Präludium angeht; wie er in den folgenden Sätzen jegliche Manierismen meidet und die Sarabande zum Singen bringt; schließlich der subtile Gebrauch des Pedals und sein unnachahmlicher Anschlag - ein schlankes, nie verschmierendes Legato und die gleichsam beiläufig dahingetupften Baßtöne; wie aus all dem ein polyphones Gewebe sich entwickelt, als ob er mehr als zehn Finger besitze.

Vorwärtsdrängend und mit vibrierender Nervosität dann der erste Satz von Mozarts a-moll-Sonate KV 310 - das einzige Mal, daß Lipatti das Gefühl vermittelt, er müsse gegen die ihm verbleibende Zeit anspielen. Melodiebögen reißen unvermittelt ab, und die Durchführung brodelt bedrohlich im Pianissimo. Ein gelegentliches kurzes Aufbäumen ins Forte, dann fällt alles wieder in sich zusammen. Ein Mozart, der nicht im eigentlichen Sinne schön, dafür jedoch mit jeder Faser wahrhaftig ist. Der Vorwurf, Lipattis Kunst gehe das Dramatische ab, wird spätestens in seinem letzten Konzert ad absurdum geführt; man kann sich durchaus vorstellen, wie seine Interpretation der "Waldsteinsonate" geklungen haben muß.

Es lohnt, die Partita, die Mozart-Sonate und die Chopin-Walzer mit den wenige Monate zuvor entstandenen Studioproduktionen zu vergleichen: diesselbe musikalische Anlage bis hin zur dynamischen Disposition; doch im Gegensatz zu Besançon sind diese Studioaufnahmen weitaus stärker auf Schönklang bedacht. Lipatti mag hier subtiler phrasieren und die dynamischen Schattierungen feiner herausarbeiten - das Ergebnis klingt apollinisch schön, aber bei weitem nicht so eindringlich.

Die Studioaufnahmen im Sommer 1950 waren ein Wettlauf mit der Zeit. Mehrere Monate lang setzten die Ärzte und Freunde ihre Hoffnungen auf das vermeintliche Wundermittel Cortison. Die kostspielige Behandlung wurde ermöglicht durch die Unterstützung von befreundeten Musikern wie Yehudi Menuhin, Charles Münch und Igor Strawinsky. Aber Lipattis Leukämie kam nicht zum Stillstand. Im Juli 1950, als es ihm seit einiger Zeit besser ging, entschloß er sich zu einem letzten Aufnahme-"Marathon". Aus Hamburg wurde eigens ein Steinway-Konzertflügel eingeflogen, der Schweizerische Rundfunk in Genf stellte seine Studios zur Verfügung, und die französische EMI unterbrach eine Produktion mit Pablo Casals in Prades und schickte ihr Aufnahmeteam nach Genf. Die folgenden zwei Wochen hat der damalige Produzent Walter Legge so beschrieben:

Allein die Produktion der Chopin-Walzer nahm neun Tage in Anspruch - täglich drei bis sieben Stunden. Abgesehen von allen aufnahmetechnischen Problemen setzte Lipatti sich vornehmlich mit dem Aspekt auseinander, daß Chopins Walzer - anders als seine Etüden oder die Preludes - nicht ein geschlossenes Ganzes bilden, sondern nur durch den Titel und den Rhythmus zusammengehören. Er wollte die Unterschiede zwischen den einzelnen Walzern herausarbeiten und zeigen, daß Chopin sie in verschiedenen Schaffensperioden komponiert hatte. Nach sieben Sitzungen beschlossen wir, daß es für unsere Ohren nunmehr erholsam sei, Abstand vom Walzer-Rhythmus zu gewinnen, und wir begannen mit Bach. An diesem Abend spielte Lipatti die Bearbeitung des Flöten-Siciliano und wandte sich schließlich (und nicht zum letzten Mal) dem Choral 'Jesu bleibet meine Freude' zu. Am nächsten Tag produzierten wir Bachs B-Dur-Partita und beendeten sie noch vor dem Mittagessen. Abends dann nahmen wir die Mozart-Sonate auf. Es war Lipattis erste Mozart-Einspielung, aber sie war - vielleicht gerade deswegen - von einer unvergleichlichen Intensität. Die Phrasen nahmen menschliche Züge an und entwickelten sich vor dem geistigen Auge zu regelrechten Opern. Um zehn Uhr waren wir soweit fertig, aber für Lipatti gab es kein Halten mehr: Zum Leidwesen der Techniker, die erschöpft und müde waren, wollte er unbedingt noch die übrigen Walzer aufnehmen ...

Lipatti liebte die Arbeit im Aufnahmestudio. Perfektionistisch, wie er veranlagt war, genoß er es, mit einem Medium zu arbeiten, das ihm ermöglichte, solange zu wiederholen und zu feilen, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. Gelegentlich sprach er sogar davon, er wolle sich in Zukunft vollkommen vom Konzertleben zurückziehen und in aller Ruhe und ohne Lampenfieber nur noch vor dem Mikrophon musizieren (wie Glenn Gould es dann später tatsächlich praktizierte).

Die ersten Tondokumente Lipattis entstanden Mitte der Dreißiger Jahre, noch während seiner Pariser Studienzeit. Schon damals aber erkannte Lipatti auch die Gefahren der beliebigen Reproduzierbarkeit. In einem Aufsatz für die rumänische Kulturzeitschrift "Libertatea" schrieb er:

Rundfunk und Schallplatte konfrontieren den ausübenden Künstler mit Forderungen, die ihn bisweilen von der eigentlichen Idee seiner Kunst wegführen. Es gibt eine Tendenz hin zu einer absolut technischen Perfektion, die aber bar jeder Begeisterungsfähigkeit und ohne Einfühlungsvermögen ist. Hinzu kommt der Zwang, fortwährend Kompromisse einzugehen, um dem Publikum zu gefallen. Deswegen auch der Mangel an Phantasie, wenn es um Konzertprogramme geht. Warum hat niemand den Mut, Musik zu spielen, die es Wert ist, aufgeführt zu werden? Stattdessen begnügen wir Musiker uns mit solchen Werken, von denen wir wissen,daß sie mit Sicherheit den Konzertsaal füllen. Wir haben uns ein Publikum herangezogen, das keinerlei Interesse für Neues zeigt oder für Ältere, unbekannte Kompositionen. Und mit ähnlichen Widerständen haben auch die weniger bekannten Interpreten zu kämpfen. Das Publikum will nur noch die Stars sehen, die in Amerika berühmt geworden sind.

Hat Lipatti selbst sich dieser Eigendynamik des Musikmarkts entziehen können? In den Klavier- und Kammermusikabenden zu Beginn seiner Karriere war er in der Werkauswahl zumindest mutiger als gegen Lebensende. Die Programme der Dreißiger Jahre konzentrierten sich häufig auf die zeitgenössische Kompositionen, auf Bartok, Enesco, Hindemith, Honegger, Ravel, Strawinsky. Tondokumente aus jener Zeit gibt es leider nicht; wie Lipattis Spiel damals geklungen hat, läßt sich allenfalls aus den Einspielungen von 1943 erschließen, als er zusammen mit Georges Enesco dessen Violinsonaten aufgenommen hat. Subtil auch hier die Anschlagskultur, brillant die Technik, aber die Interpretation wirkt insgesamt sehr gefällig und unterkühlt - oder sollte man eher sagen zurückhaltend aristokratisch? ähnliches gilt auch für die Einspielung seiner eigenen akrobatischen 'Sonatine pour la main gauche', ein dreisätziges Werk mit motorischem Figurenwerk und folkloristisch-rumänischen Melodiefragmenten, und des "Concertinos im klassischen Stil"; wie Ellen Kohlhaas es beschreibt: eine Musik im Aufbruch zur Moderne, allerdings eine Generation nach der eigentlichen musikhistorischen Eroberung der Neuzeit. So vollzog Lipatti den Umbruch zur Moderne noch einmal nostalgisch nach.

Die emotionale Intensität, die uns noch heute noch an Lipattis Spiel so fasziniert, scheint er erst in seinen letzten Lebensjahren gefunden zu haben, in dem Maße, wie die Leukämie sein Leben beherrschte und sein körperlicher Verfall einsetzte. Daß seine Interpretationen dabei bisweilen das Sentimentale streifen (wie etwa in den Choralvorspielen), wird keiner bestreiten; womit die künstlerische Aufrichtigkeit nicht in Frage gestellt werden soll. Die lebenslange Auseinandersetzung mit der Choralbearbeitung "Jesu bleibet meine Freude" ist nicht bloß die Suche nach dem schönen Ton, sondern spiegelt in eindrucksvoller Weise das Ringen um den wahren Ausdruck wider. Was sich beim unvoreingenommenen Anhören als religiöser Schauer mitteilt, läßt sich zwar trefflich analysieren als Durchdringung der polyphonen Strukturen und vollendete Klangbalance; und doch dringen solche Beobachtungen nicht bis zum Kern, zu Lipattis persönlicher Erlebenssphäre, vor. Mit diesem Choral begann er am 20. Mai 1935 sein Konzertdebüt in Paris - gleichsam als Reverenz vor seinem Lehrer Paul Dukas, der an diesem Tag beerdigt worden war. Und mit diesem Choral beendete er am 16. September 1950 in Besançon seine Konzertlaufbahn.

Dieser zutiefst persönliche (und letztlich auch ethische) Kontext macht Lipattis Interpretation unangreifbar. Und dennoch - oder gerade wegen dieser subjektiven Haltung - müssen sich seine Einspielungen die Frage nach Text- und Werktreue gefallen lassen.

Von seinen Schülern forderte er zwar, daß der geschriebene Notentext unsere wahre und einzige Religion, unser unverrückbarer Maßstab sein müsse, aber im gleichen Atemzug schränkt er ein: Wenn dies in unserem Denken fest verankert ist, dürfen wir nie vergessen, daß der Text nicht nur sein eigenes Leben besitzt, sondern auch nach unserem Leben verlangt. Der Urtext wird nebensächlich, wenn es um den "Ur-Geist" der Komposition geht. Noch detaillierter erläuterte er seine Haltung zu Werktreue und historischer Aufführungspraxis in einem Konzeptionspapier für einen Interpretationskurs, den er zusammen mit Nadia Boulanger halten sollte:

Es ist falsch zu glauben, daß die Musik irgend einer Epoche die Charakteristika und Mängel ihrer Entstehungszeit zwangsläufig in sich trägt. Wir dürfen nie vergessen, daß wahrhaft große Musik ihre eigene Zeit überschreitet, daß sie niemals übereinstimmt mit den Regeln und Gepflogenheiten, die zu jener Zeit für richtig gehalten wurden. Die Orgelmusik von Bach benötigt für ihre Anforderungen an die Registrierung eine elektrische Traktur, Mozart sollte man auf einem Klavier interpretieren - mit einer Spielart, die sich von der des Cembalos unterscheidet, und die Beethoven-Sonaten verlangen unmißverständlich nach einem modernen Flügel, wie ihn erst Chopin zur Verfügung hatte. Der Wunsch, Musik in den Rahmen ihrer Zeit zurückzuversetzen, ist vergleichbar, als wolle man einen Erwachsenen wieder in den Matrosenanzug aus seiner Kindheit stecken. Dies mag reizvoll sein, wenn man an eine historische Wiederbelebung denkt, aber von wirklichem Interesse ist dies nur für denjenigen, der in totem Papier der Vergangenheit nachspüren will.

Verständlich also, daß Lipatti keine Ambitionen hatte, den Klang des Cembalos oder Clavichords zu imitieren. Der Aufnahme von Bachs Cembalo-/Klavierkonzert in d-moll (ein Konzertmitschnitt von 1947) liegt die Busoni-Bearbeitung zugrunde mit Oktav-Verdopplungen und einer dynamischen Spannweite vom verhauchten Pianissimo bis zum kraftvollen Forte. Ein monumentaler Bach, nichts für die Ohren von Puristen. Und doch hat Lipatti sich hier schon weit entfernt von jener spätromantischen Auffassung, wie sie uns zur gleichen Zeit noch bei Edwin Fischer oder dem jungen Wilhelm Kempff begegnet.

Wie sehr er sich in Sachen Barockmusik an der Schnittstelle von romantischer und moderner Auffassung bewegte, belegen auch die Aufnahmen der beiden Scarlatti-Sonaten. Der harte, Cembalo-ähnliche Klavierklang und die rhythmisch unerbittlichen Akkordrepetitionen verleihen den Stücken eine kristalline Klarheit, die in bewußtem Gegensatz steht zu den wattierten, in Pedal gehüllten Melodiebögen.

Fast möchte es scheinen, als sei Lipatti der Genremaler der Klaviermusik gewesen, der das Publikum vor allem mit subtiler Anschlagskultur raffinierten Klangschattierungen verzaubert habe. Die "Endzeitstimmung", die Innigkeit seiner Solo-Recitals, sowohl in den letzten Studioaufnahmen als auch im Besançon-Konzert, steht indes in eigentümlichem Kontrast zu seinem ursprünglichen Anspruch an Virtuosität. Die Souveränität, mit der er etwa die Klavierkonzerte von Schumann und Grieg bewältigt, hat bis heute kein Pianist mehr erreicht. Lipatti benötigte nicht die vulgär auftrumpfende Gebärde in den Anfangsakkorden; er brauchte sich nicht in den Vordergrund zu drängen, sondern sah sich als gleichberechtigter (wenn auch exponierter) Teil des orchestralen Klangkörpers. "Konzert" wird hier nicht aufgefaßt als Wettstreit, als kämpferisches Gegeneinander (wo jeder sich behaupten muß und seinen Part durchficht), für Lipatti ist die Gattung ein emotional aufgeladener Dialog. Die Aufnahme des Schumann-Konzert mit Karajan (1947) wirkt dabei im Zusammenspiel und im pianistischen Zugriff unkomplizierter und direkter, während im Konzertmitschnitt mit Ernest Ansermet und dem Orchestre de la Suisse Romande (1950) schon die ungeheure Kraftanstrengung hörbar wird. Nicht, daß Lipatti bei Ansermet die Tempi langsamer nimmt; aber der Anschlag hat seine Leichtigkeit, der Klavierklang die irisierende Brillanz eingebüßt.

Inspiration und tägliches Üben reichen für eine Pianistenkarriere nicht aus. Was bei Lipatti immer wieder fasziniert, die Zartheit des Klangs, seine Fähigkeit, polyphone Strukturen in immer wieder neuem Farbenreichtum auszuleuchten, beruhte nicht zuletzt auf seiner physischen Konstitution:

Er hatte eine sehr große und muskulöse Hand - sie umfaßte die Spanne einer Duodezime, sein Kleiner Finger war annähernd so lang wie der vierte, und er hatte die Schultern eines Ringkämpfers, die gar nicht zu seinem übrigen fragilen Körperbau passen wollten. Schultern, Arme, Hände, Finger - sie alle schienen ein Eigenleben zu führen, ohne sich gegenseitig zu beeinträchtigen; sie spielten gleichsam ein kontrapunktische Musik. Und dieser visuelle Eindruck deckt sich mit dem klanglichen Resultat. (Walter Legge)

1917 wurde Dinu Lipatti in Bukarest geboren. Die Voraussetzungen für seine früh sich zeigende musische Begabung waren geradezu ideal: ein großbürgerliches Elternhaus, keine materiellen Sorgen, die Eltern beide musikinteressiert, der Vater ein ehemaliger Geigenschüler von Carl Flesch, die Mutter eine recht versierte Pianistin. Es folgen die üblichen Geschichten aus der Kindheit begabter Musiker. Klein-Dinu lernt Klavierspielen nach dem Gehör und beschäftigt sich vornehmlich mit dem Komponieren eigener Stücke, die das häusliche Leben musikalisch illustrieren: die "Yoghurt-Stunde" als Protest gegen die tägliche Portion Vitamine, "Streit in der Küche" und was Kinder sonst noch beschäftigt. Mit vier Jahren wird Dinu getauft; sein Pate ist der rumänische Komponist und Geiger Georges Enesco, der zunächst als Vorbild, später dann als Freund und Kammermusikpartner in Lipattis Leben eine große Rolle spielt. Das Photo, das Enesco zeigt, wie er den Vierjährigen mit Lorbeer bekränzt, mag heutzutage zum Schmunzeln verleiten, und doch steckt in dieser Geste mehr Wahrheit, als damals jemand ahnen konnte.

Die nächsten Jahre sind ausgefüllt mit Klavierunterricht, Üben und Komponieren. 1933, als 16-Jähriger, gewinnt Lipatti den zweiten Preis des 'Georges-Enesco-Kompositionswettbewerbs' für sein Opus Eins: eine Sonatine für Violine und Klavier. Noch im selben Jahr reiste er zum 'Internationalen Klavierwettbewerb' nach Wien. Über 200 Kandidaten hatten sich gemeldet, in der Jury saßen unter anderem Wilhelm Backhaus, Emil Sauer, Alfred Cortot und Felix Weingartner. Nach fünf Durchgängen gab es schließlich nur noch zwei Kandidaten: einen polnischen Pianisten namens Boleslav Kohn und Lipatti. Die Jury stimmte für Kohn, nicht weil er besser war, sondern weil man glaubte, man dürfe einem 16-Jährigen nicht solche ehre antun. Worauf Cortot aus Protest sein Mandat als Juror niederlegte und Lipatti nach Paris einlud.

Ein Jahr später dann geht Lipatti zum weiteren Studium nach Paris: Er erhält Klavierunterricht bei Cortot und Yvonne Lefebure, lernt bei Charles Münch Dirigieren und studiert Komposition bei Paul Dukas und, nach Dukas' Tod, bei Nadia Boulanger. Mit ihr machte er 1937 seine erste Schallplatteneinspielung, die Brahms-Walzer op. 39 für zwei Klaviere. Auf dem Plattenetikett war damals zu lesen: Gespielt von den Damen Nadia Boulanger und Dina Lipatti.

Konzertreisen führten Lipatti in den nächsten Jahren durch ganz Europa. Doch mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren die Möglichkeiten, sich international einen Namen zu machen, eingeschränkt. Die Kriegsjahre bis 1943 verbrachte er in Bukarest; von dort floh er mit seiner späteren Ehefrau Madeleine Catacuzene und einem Vermögen von fünf Franken in die Schweiz. In jene Zeit fallen auch die ersten verhängnisvollen Fieberschübe, die ihn zu monatelangen Ruhepausen zwangen und die sich später dann als Leukämie herausstellen sollten.

1946 schließt er mit dem Produzenten der englischen Columbia Walter Legge einen Exklusivvertrag. In vier Sitzungen in den Londoner Abbey Road Studios spielt Lipatti ein, was ihm wichtig erscheint. Er gibt Konzerte, soweit seine Kräfte es zulassen; aber die geplanten Tourneen in die USA, nach Südamerika und Australien muß er absagen. Eine letzte Aufnahmesitzung in Genf, das Konzert in Besançon - am 2. Dezember 1950 starb Dinu Lipatti im Alter von 33 Jahren.

Das Bild, das uns bleibt, nimmt - bei aller Distanz - immer wieder und fast zwangsläufig Züge der Verklärung an. Es ist eingefroren auf dem Stand von 1950. Mittlerweile wäre Lipatti 74 Jahre alt, drei Jahre älter als Arturo Benedetti Michelangeli, zwei Jahre älter als Svjatoslav Richter. Aber es ist müßig, seine weitere Entwicklung in die Gegenwart "hochzurechnen", zu spekulieren, "was wäre, wenn ..."; nicht, weil Lipattis Leben das Schicksal eines Frühvollendeten gewesen ist, sondern weil er in den Jahren seiner Krankheit einen künstlerischen Prozeß durchgemacht hat, den seine Frau Madeleine so beschreibt:

Die Krankheit machte ihn reifer, und sein Spiel bekam zunehmend mehr Tiefe. Jede Note, die er spielte, erhielt soviel Bedeutung, daß man glauben konnte, ihn sprechen zu hören, wenn er am Klavier saß.

Lipattis Hinterlassenschaft hat auch ohne den biographischen Hintergrund Bestand, aber zu erklären ist sie letztlich wohl nur aus seinem Leben heraus.

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Diskographie (Auswahl)

J.S. Bach: (Bearb.: F. Busoni)
Konzert für Klavier und Streichorchester Nr. 1 d-moll, BWV 1052.
Concertgebouw Orchester Amsterdam;
Ltg.: Edward van Beinum.
Aufn.: Amsterdam, 2.10.1947 (Konzert-Mitschnitt)
Jecklin JD 541-2

J.S. Bach: (Bearb.: Myra Hess)
"Jesu bleibet meine Freude". Choral aus der Kantate BWV 147.
Aufn.: Genf, 10.7.1950
EMI CZS 7 67163 2A

J.S. Bach: (Bearb.: F. Busoni)
2 Choralvorspiele:
"Nun komm', der Heiden Heiland" BWV 599.
"Ich ruf' zu dir, Herr Jesu Christ" BWV 639.
Aufn.: Genf, 10.7.1950
EMI CZS 7 67163 2A

J.S. Bach:
Partita Nr. 1 B-Dur, BWV 825.
Aufnahmen:

Genf, 9.7.1950
EMI CZS 7 67163 2A

Besançanson, 16.9.1950 (Konzert-Mitschnitt)
EMI 1C 137 1004633 (2LPs)

J.S. Bach: (Bearb.: W. Kempff)
Siciliano, aus der Sonate für Flöte und Cembalo Es-dur, BWV 1031.
Aufn.: Genf, 6.7.1950
EMI CZS 7 67163 2A

J. Brahms:
'Liebeslieder' op. 52. Walzer für Klavier zu vier Händen und Vokalquartett.
Dinu Lipatti, Nadia Boulanger, Marie Blanche, Comtesse de Polignac u.a.
Aufn. Paris, Feb./März 1937, 22.1.1938.
OPUS Records (USA) MLG 80 (LP)

J. Brahms:
7 Walzer op. 39 für 2 Klaviere.
Dinu Lipatti, Nadia Boulanger.
Aufn.: Paris, 25.2.1937
EMI CZS 7 67163 2A

F. Chopin:
Barcarole fis-moll, op. 60.
Aufn.: London, 21.4.1948
EMI CZS 7 67163 2A

F. Chopin:
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 e-moll, op. 11.
Tonhalle-Orchester Zürich,
Ltg.: Otto Ackermann.
Aufn.: Zürich, 7.2.1950 (Konzert-Mitschnitt)

EMI CZS 7 67163 2A
Jecklin JD 541-2

F. Chopin:
2 Etüden: e-moll, op. 25,5 und Ges-Dur, op. 10,5
Aufn.: Zürich, 7.2.1950 (Konzert-Mitschnitt)
EMI CZS 7 67163 2A
Jecklin JD 541-2

F. Chopin:
Mazurka cis-moll, op. 50,3.
Aufn.: Genf, 11. Juli 1950
EMI CZS 7 67163 2A

F. Chopin:
Nocturne Nr. 8 Des-Dur, op. 27,2.
Aufnahmen:

London, 20.2.1947
EMI CZS 7 67163 2A

Zürich, 7.2.1950 (Konzert-Mitschnitt)
Jecklin JD 541-2

F. Chopin:
Sonate Nr. 3 h-moll, op. 58
Aufn.: London, 1./4.3.1947.
EMI CZS 7 67163 2A

F. Chopin:
14 Walzer
Aufn.: Genf, 3.-12.7.1950
EMI CZS 7 67163 2A

F. Chopin:
13 Walzer
Aufn.: Besançanson, 16.9.1950 (Konzert-Mitschnitt)
EMI 1C 137 1004633 (2LPs)

G. Enesco:
Bourree aus der Suite für Klavier Nr. 2 D-Dur, op. 10
Aufn.: Bukarest, 2.3.1943
Philips Ph 426 100-2

G. Enesco:
Sonate D-Dur, op. 24,3
Aufn.: Bern, 18.10.1943
EMI CZS 7 67163 2A

G. Enesco:
Sonate Nr. 2 f-moll für Klavier und Violine op. 6
mit Georges Enesco (Violine)
Aufn.: Bukarest, 13.3.1943
Philips Ph 426 100-2

G. Enesco:
Sonate Nr. 3 a-moll für Klavier und Violine op. 25
mit Georges Enesco (Violine)
Aufn.: Bukarest, 11.3.1943
Philips Ph 426 100-2

E. Grieg:
Konzert für Klavier und Orchester a-moll, op. 16
Philharmonia Orchestra
Ltg.: Alceo Galliera
Aufn.: London, 18./19.9.1947
EMI CZS 7 67163 2A

D. Lipatti:
Concertino im klassischen Stil für Klavier und Kammerorchester, op. 3
Berliner Kammerorchester
Ltg.: Hans von Benda
Aufn.: Berlin, 14.1.1943
Philips Ph 426 100-2

D. Lipatti:
Sonatine für die linke Hand
Aufn.: Bukarest, 4.3.1943
Philips Ph 426 100-2

F. Liszt:
Petrarca-Sonett Nr. 104
Aufn.: London, 24.9.1947
EMI CZS 7 67163 2A

W.A. Mozart:
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 21 C-Dur, KV 467
Festival Orchester Luzern
Ltg.: Herbert von Karajan
Aufn.: Luzern 23.8.1950 (Konzert-Mitschnitt)
EMI CZS 7 67163 2A

W.A. Mozart:
Sonate Nr. 8 a-moll, KV 310
Aufnahmen:

Genf, 9.7.1950
EMI CZS 7 67163 2A

Besançanson, 16.9.1950 (Konzert-Mitschnitt)
EMI 1C 137 1004633 (2LPs)

M. Ravel:
Alborada del gracioso
Aufn.: London, 17.4.1948
EMI CZS 7 67163 2A

D. Scarlatti:
2 Sonaten (d-moll L.413; E-Dur L.23)
Aufn.: London, 20.2.1947 & 27.9.1947
EMI CZS 7 67163 2A

F. Schubert:
Impromptus Ges-Dur, op. 90,3 und Es-Dur, op 90,2
Aufn.: Besançanson, 16.9.1950 (Konzert-Mitschnitt)
EMI CZS 7 67163 2A

R. Schumann:
Konzert für Klavier und Orchester a-moll, op. 54
Philharmonia Orchestra
Ltg.: Herbert von Karajan
Aufn.: 9./10.4.1948
EMI CZS 7 67163 2A

R. Schumann:
Konzert für Klavier und Orchester a-moll, op. 54
Orchestre de la Suisse Romande
Ltg.: Ernest Ansermet
Aufn.: 22.2.1950 (Konzert-Mitschnitt)
Decca 425 968-2

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Literatur (Auswahl)

Lipatti, Anna:
La douleur de ma vie. Genf (Ed. Perret-Gentil) 1967.

Lipatti, Madeleine:
1970 in Memoriam Dinu Lipatti 1917-1950. Genf (Ed. Labor et Fides) 1970.

Tananescu, Dragos:
Lipatti. London (Kahn & Averill) 1988.

Burckhardt, Carl J.:
Dinu Lipatti; in: Diener der Musik. Tübingen 1965.

Legge, Walter:
Dinu Lipatti; in: Gramophone, Feb. 1951.

Meyer, Martin:
Wirklichkeit und Legende; in: FonoForum, Juni 1978.

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