Hector Berlioz: Symphonie fantasique, op. 14a
Episode aus dem Leben eines Künstlers

Dieser Beitrag ist entstanden als Booklet-Text für die CD-Produktion
Hector Berlioz: Symphonie fantastique, op. 14a
(Dresdner Philharmonie; Ltg.: Herbert Kegel).
Berlin Classics (LC 6203) 2148-2. Prod. 1986, © 1994

Programmtext der Partitur (in der Fassung von 1855)

Avertissement Zur Nachricht
Le programme suivant doit être distribué à l'auditoire toutes les fois que la symphonie fantastique est exécutée dramatiquement [...] Si on exécute la symphonie isolément dans un concert, on peut se dispenser de distribuer le programme, en conservant seulement le titre des cinq morceaux; la symphonie (l'auteur l'espère) pouvant offrir en soi un intérêt musical indépendant de toute intention dramatique. Nachstehendes Programm muß unter die Zuhörer verteilt werden, so oft man die Phantastische Symphonie dramatisch ausführt [...] Wird die Symphonie einzeln im Konzerte vorgetragen, so [...] kann das Austeilen des Programmes unterbleiben; man hat dann bloß die Titel der fünf Nummern beizubehalten. Der Verfasser schmeichelt sich mit der Hoffnung, daß die Symphonie an und für sich, und abgesehen von aller dramatischen Absicht, ein rein musikalisches Interesse darbieten kann.

Programme de la Symphonie

Programm der Symphonie
Un jeune musicien d'une sensibilité maladive et d'une imagination ardente, s'empoissonne avec de l'opium dans un accès de désespoir amoureux. La dose de narcotique, trop faible pour lui donner la mort, le plonge dans un lourd someil accompagné des plus étranges visions, pendant lequel ses sensations, ses sentiments, ses souvenirs se traduisent dans son cerveau malade en pensées et en images musicales. La femme aimée, elle-même, est devenue pour lui une mélodie et comme une idée fixe qu'il retrouve et qu'il entend partout. Ein junger Musiker von krankhafter Empfindsamkeit und glühender Phantasie hat sich in einem Anfalle verliebter Verzweiflung mit Opium vergiftet. Zu schwach, den Tod herbeizuführen, versenkt ihn die narkotische Dosis in einen langen Schlaf, der von seltsamen Vision begleitet wird. In diesem Zustand geben sich seine Empfindungen, seine Gefühle und Erinnerungen durch musikalische Gedanken und Bilder in seinem kranken Gehirne kund. Die Geliebte selbst wird für ihn zur Melodie, gleichsam zu einer fixen Idee, die er überall wiederfindet, überall hört.

Première Partie: Rêveries, Passions

Erster Teil: Traumbilder, Leidenschaft
Il se rapelle d'abord ce malaise de l'âme, ce vague des passions ces mélancolies, ces joies sans sujet qu'il éprouva avant d'avoir vu celle qu'il aime; puis l'amour volcanique qu'elle lui inspira subitement, ses délirantes angoisses, ses jalouses fureurs, ses retours de tendresse, ses consolations religieuses. Zuerst gedenkt er des beängstigenden Seelenzustandes, der dunklen Sehnsucht, der Schwermut und des freudigen Aufwallens ohne bewußten Grund, die er empfand, bevor ihm die Geliebte erschienen war; sodann erinnert er sich der heißen Liebe, die sie plötzlich in ihm entzündet hat, seiner fast wahnsinnigen Herzensangst, seiner eifersüchtigen Wut, seiner wiedererwachenden Liebe, seiner religiösen Tröstungen.

Deuxième Parite: Un bal

Zweiter Teil: Auf dem Balle
Il retrouve l'aimée dans un bal au milieu du tumulte d'une fête brillante. Auf einem Balle, inmitten des Geräusches eines glänzenden Festes, findet er die Geliebte wieder.

Troisième Partie: Scène aux Champs

Dritter Teil: Auf dem Lande
Un soir d'été à la campagne, il entend deux pâtres qui dialoguent un Ranz des vaches; ce duo pastoral, le lieu de la scène, le léger bruissement des arbres doucement agités par le vent, quelques motifs d'espoir qu'il a conçus depuis peu, tout concourt à rendre à son coeur un clame inaccoutumé, à donner à ses idées une couleur plus riante; mais elle apparait de nouveau, son coeur se serre, de douloureux pressentiments l'agitent, si elle le trompait ... L'un des pâtres reprend sa naive mélodie, l'autre ne répond plus. Le soleil se couche ... bruit éloigné du tonnerre ... solitude ... silence ... An einem Sommer-Abende, auf dem Lande, hört er zwei Schäfer, die abwechslend den Kuhreigen blasen. Dieses Schäfer-Duett, der Schauplatz, das leise Flüstern der sanft vom Winde bewegten Bäume, einige Gründe zu Hoffnung, die ihm erst kürzlich bekannt geworden, alles vereinigt sich, um seinem Herzen eine ungewöhnliche Ruhe wiederzugeben, seinen Vorstellungen ein lachenderes Colorit zu verleihen. Da erscheint sie auf's Neue; sein Herz stockt, schmerzliche Ahnungen steigen in ihm auf: Wenn sie ihn hinterginge! ... Der eine Schäfer nimmt die naive Melodie wieder auf; der andere antwortet nicht mehr ... Sonnenuntergang ... fernes Rollen des Donners ... Einsamkeit ... Stille ...

Quatrième Partie: Marche au Supplice

Vierter Teil: Der Gang zum Richtplatz
Il rêve qu'il a tué celle qu'il aimait, qu'il est condamné à mort, conduit au supplice. Le cortège s'avance, aux sons d'une marche tantôt sombre et farouche, tantôt brillante et solennelle, dans laquelle un bruit sourd des pas graves succède sans transition aux éclats les plus bruyants. A la fin, l'idée fixe reparaît un instant comme une dernière pensée d'amour interrompue par le coup fatal. Ihm träumt, er habe seine Geliebte gemordet, er sei zum Tode verdammt und werde zum Richtplatze geführt. Ein bald düsterer und wilder, bald brillanter und feierlicher Marsch begleitet den Zug; den lärmendsten Ausbrüchen folgen ohne Übergang dumpfe, abgemessene Schritte. Zuletzt erscheint neuerdings die fixe Idee, auf einen Augenblick, gleichsam ein letzter Liebesgedanke, den der Todesstreich unterbricht.

Cinquième Partie: Songe d'une Nuit de Sabbat

Fünfter Teil: Walpurgis Nachts Traum
Il se voit au sabbat, au milieu d'une troupe affreuse d'ombres, de sorciers, de monstres de toute espèce, réunis pour ses funerailles. Bruits étranges, gemissements, éclats de rire, cris lontains auxquels d'autres cris semblent répondre. La mélodie-aimée reparaît encore; mais elle a perdu son caractère de noblesse et de timidité; ce n'est plus qu'un air de dans ignoble, trivial et grotesque; c'est elle qui vient au sabbat ... Rugissements de joie à son arrivé ... Elle se mêle à l'orgie diabolique ... Glas funèbre, parodie burlesque du Dies irae. Ronde du sabbat. La ronde du sabbat et le Dies irae ensemble. Er glaubt, einem Hexentanze beizuwohnen, inmitten grausiger Gespenster, unter Zauberern und vielgestaltigen Ungeheuern, die sich zu seinem Begräbnisse eingefunden haben. Seltsame Töne, Ächzen, gellendes Lachen, fernes Schreien, auf welches anderes Geschrei zu antworten scheint. Die geliebte Melodie taucht wieder auf, aber sie hat ihren edlen und schüchternen Charakter verloren; sie ist zu einer gemeinen, trivialen und grotesken Tanzweise geworden, sie ist's, die zur Hexenversammlung kommt. Freudiges Gebrüll begrüßt ihre Ankunft ... Sie mischt sich unter die höllische Orgie; Sterbegeläute ... burleske Parodie des Dies irae; Hexen-Rundtanz. Das Rondo und das Dies irae zu gleicher Zeit.

Entstehungsgeschichte und Kommentar

nach oben

Im Oktober 1827 schrieb Hector Berlioz seinem Freund Ferdinand Laforest:

"Du weißt nicht, was Liebe ist, was immer Du auch sagen magst. Du kennst nicht das Toben, dieses Furioso, dieses Delirium, das von allen Sinnen Besitz ergreift und das einen zu allem fähig macht. Ich hoffe, daß Du niemals dieses unerträgliche Leiden erleben mußt, dem ich zum Opfer gefallen bin."

Ursache des unerträglichen Leidens war eine englische Schauspielerin namens Harriett Smithson, die seit einem knappen Monat mit einer Theatertruppe in Paris gastierte und als Darstellerin der Ophelia für Aufsehen sorgte. Hector Berlioz, zu jener Zeit noch ein unbedeutender Komponist, wagte nicht, sich der Schauspielerin zu offenbaren. Stattdessen sublimierte er sein Begehren in den folgenden Jahren als Triebkraft für seine kompositorische Arbeit. Im Sommer 1830 gelang Berlioz der künstlerische Durchbruch: Für seine Kantate Sardanapal erhielt er den begehrten "Prix de Rome" des Pariser Musikkonservatoriums, und noch im Herbst desselben Jahres gab er seinem Liebessehnen künstlerischen Ausdruck und komponierte innerhalb weniger Wochen die Symphonie fantastique.

Das Programm, das Berlioz der Episode aus dem Leben eines Künstlers vorangestellt hat, brachte ihm den Vorwurf ein, es ginge in der Symphonie fantastique nicht um die Kunst, sondern er wolle mit musikalischen Mitteln bloß öffentliche Selbstdarstellung betreiben. Aber was die Zeitgenossen irritierte und empörte, war wohl nicht sosehr die schonungslose Offenheit, mit der Berlioz seinen privaten Liebesschmerz in den Konzertsaal trug (von dem allerdings Harriett Smithson in ihrer eigenen Theaterwelt nichts mitbekam). In der Symphonie fantastique manifestierte sich vielmehr ein neuer Musikgeschmacks, der mit dem düsteren, selbstzerfleischenden Lebensgefühl der französischen Romantik Ernst machte: Schon Victor Hugo hatte von der Literatur gefordert, daß an die Stelle des Schönen das Charakteristische, die Wahrheit zu treten habe, daß selbst das Böse seine Reize habe und auch das Vulgäre, Triviale und Häßliche darstellungswürdig sei. In ähnlicher Weise setzte nun auch Berlioz das Geräusch und den deformierten, gezielt häßlichen Klang als extreme Mittel der musikalisch-dramatischen Wahrheit ein.

Der Musikkritiker François-Joseph Fétis, der 1830 immer noch das Ideal der Mozartschen Wiener Klassik hochhielt, monierte anläßlich der Uraufführung am 2. Dezember 1830:

"Im Allgemeinen erregt diese Musik mehr Erstaunen als Gefallen; es mangelt ihr an Charme, und sosehr sie die großen Fähigkeiten des Autors zeigt, muß man doch bedauern, daß Berlioz sein Können nicht auf eine Art und Weise eingesetzt hat, die mit dem Endzweck der Kunst, der Darstellung des Schönen, besser übereinstimmt. [...] Oft sieht man Leute in Gedanken versunken, die, wenn man sie fragt, warum sie so meditieren, nichts zu antworten wissen. Ich fürchte, mit der Träumerei des Herrn Berlioz verhält es sich im ersten Satz nicht viel anders, und schätze sie für eine Kopfhängerei, hinter der nichts steckt. [...] Der zweite Abschnitt 'Der Ball' hat weniger Barbarisches, aber das ist auch Alles, was man von ihm sagen kann. [...] Prüft alle Sätze der Sinfonie, und ihr werdet sehen, daß in dem einen oder anderen Glied der Phrase immer etwas fehlt. Nicht einmal an Steigerung ist irgendwo zu denken - Herr Berlioz weiß gar nicht, worin sie besteht! Wo soll da eine ordentliche Melodie herkommen? [...] Der fünfte Teil, "Walpurgisnacht", ist eine Allianz des Trivialen, Grotesken und Barbarischen - kurzum: Nicht-Musik!"

In der Tat sprengt die Symphonie fantastique die traditionellen Gattungskonventionen: Die Form wird nicht mehr durch den musikalischen Verlauf, sondern durch ein literarisches Programm bestimmt, die klassische Viersätzigkeit ist auf fünf Sätze erweitert (wodurch Berlioz die Instrumentalmusik in die Nähe der französischen Grand Opéra rückt), und auch die Besetzung mit Harfen, vierfachen Pauken und Glocken hat mehr mit einem illustrativ-malerischen Opernorchester als dem herkömmlichen Sinfonieorchester gemein.

In dem Maße, wie Berlioz die klassischen Gesetzmäßigkeiten der Gattung zerbrach, benötigte er neue Gestaltungsmittel, um die Komposition zusammenzuhalten. Als motivische Klammer führte er die idée fixe ein - eine Melodie, die sich wie ein roter Faden durch die Sinfonie zieht. Sie beherrscht das musikalische Geschehen, ohne ständig präsent zu sein. Immer wieder taucht sie auf, aber sobald man sie greifen will, verflüchtigt sie sich. Im ersten und dritten Satz spiegelt die idée fixe die aufgewühlte, zerrissene Innenwelt des Künstlers wider. Gleichzeitig aber ist sie Erinnerungsmotiv - Chiffre für die verklärte Geliebte (Herriett Smithson) im Ballsaal -, sie verkörpert den letzten Liebesgedanken vor der Hinrichtung und treibt während des Höllensabbats als Hexe ihren Spott mit dem Dies irae aus der katholischen Totenmesse.

So ablehnend die konservativen Gemüter der Symphonie fantastique gegenüber standen, so begeistert reagierten die romantisch gesonnenen Geister. Ludwig Börne schrieb am 8. Dezember 1830 in einem seiner Briefe aus Paris:

"Ein ganzer Beethoven steckt in diesem Franzosen. Aber toll zum Anbinden. Mir hat alles sehr gefallen. Eine merkwürdige Symphonie, [...] es ist die ausschweifendste Ironie, wie sie noch kein Dichter in Worten ausgedrückt, und alles gottlos."

Und Heinrich Heine beschrieb die Symphonie fantastique als

"ein bizarres Nachtstück, das nur zuweilen erhellt wird von einer sentimental weißen Weiberrobe, die darin hin- und herflattert, oder von einem schwefelgelben Blitz der Ironie. Das Beste darin ist ein Hexensabbath, wo der Teufel die Messe liest und die katholische Kirchenmusik mit der schauerlichsten, blutigsten Possenhaftigkeit parodiert wird. Es ist eine Farce, wobei alle geheimen Schlangen, die wir im Herzen tragen, freudig emporzischen und sich vor Wollust in die Schwänze beißen."

Begonnen hatte alles mit einer unglücklichen Liebe - das Ergebnis hatte weitreichende Auswirkungen auf die Musik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Franz Liszt griff für seine sinfonischen Dichtungen auf das Prinzip der programmatischen Erläuterung zurück, Richard Wagner baute in seinen Musikdramen die idée fixe zu einem regelrechten Gebäude aus Leitmotiven und "Gefühlswegweisern" aus, und von Berlioz' Instrumentationskunst zehrten noch Gustav Mahler und Richard Strauss.

Das biographische Ende von Berlioz' Episode aus dem Leben eines Künstlers: Wenige Monate nach der Uraufführung der Symphonie fantastique gelang es ihm doch noch, das Herz seiner heißgeliebten Harriett Smithson zu erobern. Im Oktober 1833 fand die Hochzeit statt (mit Franz Liszt als Trauzeugen), und bald darauf setzte auch schon der alltägliche Ehekrieg ein ... Im Herbst 1841 schließlich begann Berlioz eine Liaison mit der Sängerin Marie Recio.

nach oben