Alexander Borodin: Fürst Igor

Dieser Beitrag ist entstanden als Programmheftbeitrag
zum Europäischen Musikfest der
Internationalen Bachakademie, Stuttgart (12.9.1993)

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde in einer Klosterbibliothek in Kiew eine Handschrift entdeckt, die wahrscheinlich um 1500 entstanden war, deren sprachliche Diktion aber weit ins russische Mittelalter verweist. Es ist die Geschichte des Fürsten Igor, Herrscher von Nowgorod-Sewersk, der 1185 gegen das heidnische Volk der Polowzer aus der turko-tartarischen Steppe in den Krieg zog und in Gefangenschaft geriet. Soweit der historisch belegte Hintergrund. Das "Igorlied" erzählt davon, wie Khontschak, der Herrscher der Polowzer, dem Fürsten Igor Freundschaft und Freiheit anbietet, falls er bei ihnen bleibt. Aber Igor flieht. Sein Sohn Wladimir, der sich währenddessen in die Tochter des Khans verliebt hat, bleibt in der tartarischen Steppe zurück.

In literarischer und kulturgeschichtlicher Hinsicht ist das Epos dem zeitgleichen deutschen Nibelungenlied vergleichbar, obwohl früh schon Stimmen laut wurden, die die Herkunft aus dem späten 12. Jahrhundert anzweifelten. Als die Handschrift jedoch 1812 beim Brand von Moskau in Flammen aufging, avancierte das "Igorlied" (von dem glücklicherweise Abschriften angefertigt worden waren) zum russischen Nationalepos.

1869 schlug der Kunstwissenschaftler Wladimir Stassow seinem Freund Alexander Borodin vor, das "Igorlied" zur Grundlage einer Oper zu machen. Hier finde, so Stassow in einem Brief, der Komponist alles,

was seinem Talent und seiner künstlerischen Natur entspricht - breite, epische Motive, nationale Elemente, die vielfältigsten Charaktere, Leidenschaft, Dramatik und das östliche Kolorit mit seinen vielfarbigen Erscheinungen.

Stassow selbst skizzierte das Szenarium, aber Borodin, der das Komponieren nur als Nebenbeschäftigung betrieb (hauptberuflich war er Militärarzt und Professor an der medizinischen Akademie in St. Petersburg), tat sich schwer mit der Erstellung eines Librettos und der musikalischen Ausarbeitung.

Bis zum Ende seines Lebens beschäftigte er sich mit dem Stoff. Wiederholt legte er die Skizzen zu "Fürst Igor" beiseite, um sie Jahre später wieder aufzunehmen. Als im Februar 1879 in einem Konzert einzelne Nummern aus der Oper aufgeführt werden sollten, mußte Rimski-Korsakow ihm bei der Orchestrierung helfen.

1882 lernte Borodin Alexander Glasunow kennen. Über die Abende berichtet Glasunow:

Ich kam mit Borodin oft zusammen in Gesellschaft von Rimski-Korsakow, Stassow und vielen anderen seiner Verehrer. Oft blieben wir bis tief in die Nacht sitzen. Bei diesen musikalischen Zusammenkünften wurde alles durchgespielt, was Borodin bis dahin für seine Oper "Fürst Igor" komponiert hatte. Die einzelnen mehr oder weniger geordneten Nummern und Skizzen, die später nur zum Teil Aufnahme in die Oper fanden, versetzten uns in helle Begeisterung und erzwangen unsere tiefste Verehrung vor der Inspiration, Wucht und schöpferischen Urwüchsigkeit dieses großen russischen Musikers. Die Melodik der Volksgesänge hatte sich dermaßen in seinem Schaffen eingewurzelt, daß er fast nie zur Entlehnung von Originalmotiven russischer Volkslieder Zuflucht nahm.

Rimski-Korsakow und Glasunow waren mit der intendierten musikalischen Struktur des Werks so eng vertraut, so daß Borodin gelegentlich äußerte:

Ihr beide seid verpflichtet, diese Arbeit nach meinem Tod zu vollenden.

Als er dann im Februar 1887 im Alter von 54 bei einem Kostümfest tot zusammenbrach, 54jährig, Herzinfarkt, wandte sich der Verleger Belaieff an die beiden Freunde mit der Bitte, die Oper fertigzustellen.

Die Arbeit erwies sich als mühsam. Die Komposition lag vielfach nur in Skizzen und fragmentarischen Notizen vor, und für den zweiten und dritten Akt gab es nicht einmal ein fertiges Libretto. Auch von der Ouvertüre existierte keine Note. Wie Glasunow selbst zugab, schrieb er sie nach dem Gehör nieder - so wie Borodin sie ihm mehrmals vorgespielt hatte. Es ist dies ein musikgeschichtliches Kuriosum, daß sich die Ouvertüre zu "Fürst Igor" im Opern- und Konzertleben als ein Werk Borodins etabliert hat, obwohl bekannt ist, daß sie gänzlich aus Feder Glasunows stammt. In seinen "Erinnerungen" wies Gasunow ausdrücklich darauf hin,

daß es sich bei unserer Arbeit nicht um ein gewöhnliches Arrangement der Musik Borodins handelt, sondern um eine Arbeit, die einen großen schöpferischen Impuls voraussetzt. Es ist deshalb nur selbstverständlich, wenn wir uns als Mitkomponisten des Werkes betrachten.

Allerdings ist er bei seiner Arbeit sehr einfühlsam vorgegangen und hat gleichsam chamäleonartig sich die ästhetischen Prinzipien zu eigen gemacht, die Borodin bei den abendlichen Zusammenkünften einmal so formuliert hatte:

Meiner Meinung nach haben in der Oper wie in der Dekorationsmalerei kleine Formen und Detailschilderungen keinen Platz. Es muß alles mit breiten Pinselstrichen gemalt sein, klar und deutlich und möglichst praktisch in der Ausführung, sowohl für die Gesangsstimmen als auch für das Orchester.

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