Johannes Brahms: Klavierwerke

Dieser Beitrag ist entstanden als Booklet-Text für die CD-Produktion
Johannes Brahms: Klavierwerke
(Peter Rösel, Klavier).
Berlin Classics (LC 6203) 90772 (5 CDs). Prod. 1995.

Einleitung

"Brahms' Klavierwerk teilt sich in die Phase bis zu den Paganini-Variationen und in die Zeit der späten Klavierstücke. In der ersten Phase hatte er die späten Sonaten Beethovens vor Augen, die großen Variationswerke Beethovens. Er war sich der Tradition bewußt, in der er stand, und fühlte sich als eine Art "Klassik-Vollender". Gleichzeitig hat er aber auch erkannt, daß dieser Weg doch fragwürdig ist: Mit seinen Sinfonien hat er sich sehr schwer getan, obwohl sie genau in der Tradtion stehen, und er hat immer wieder betont, daß man nach Beethoven so eigentlich nicht mehr komponieren kann. Für Klavier hat er sich dann nach den Paganini-Variationen nur noch auf kleine Stücke beschränkt, die aber mitnichten emotional ungezügelte Impromptus darstellen, sonden die ganz bewußt jedes für sich ein anderes strukturelles Problem aufgreifen und es mit ganz sparsamen Mitteln abhandeln."
(Peter Rösel)

nach oben

CD 1

"Ich dachte, es würde und müsse plötzlich einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entwicklung brächte, sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion spränge. Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms ..."
(Robert Schumann, "Neue Bahnen", in: Neue Zeitschrift für Musik, 28.10.1853)

Mit überschwenglicher Begeisterung präsentierte Robert Schumann im Oktober 1853 in der Neuen Zeitschrift für Musik unter der Überschrift "Neue Bahnen" seinen Lesern jenen zwanzigjährigen Komponisten, der erst wenige Wochen zuvor im Hause der Schumanns in Düsseldorf vorstellig geworden war und einige seiner Kompositionen zu Gehör gebracht hatte. Und ähnlich emphatisch äußerte sich auch Clara Schumann wenige Tage nach dieser ersten Begegnung in ihrem Tagebuch:

"Das ist einer, der kommt eigens, wie von Gott gesandt! Er spielte uns Sonaten, Scherzos von sich, alles von überschwenglicher Phantasie, Innigkeit der Empfindung und meisterhaft in der Form. Robert meint, er wüßte ihm nichts mehr zu sagen, das er hinweg- oder hinzutun solle. Es ist wirklich rührend, wenn man diesen Menschen am Klavier sieht mit seinem interessant jugendlichen Gesichte, das sich beim Spielen ganz verklärt, seine schöne Hand, die mit der größten Leichtigkeit die größten Schwierigkeiten besiegt, und dazu diese merkwürdigen Kompositionen. Das was er uns gespielt, ist so meisterhaft, daß man meinen müßte, den hätte der liebe Gott gleich so fertig auf die Welt gesetzt."
(Clara Schumann, Tagebucheintragung vom 3.10.1853)

Welche Werke Brahms dem Ehepaar Schumann damals vorspielte, läßt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit rekonstruieren: Zumindest dürften die beiden Klaviersonaten op. 1 und op. 2 sowie das Scherzo in es-moll op. 4 darunter gewesen sein. Daß um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Komponist sich als Aufgabe stellte, Klaviersonaten zu schreiben, war schon ungewöhnlich genug. Nach Beethovens Tod im Jahre 1827 war diese Gattung im Niedergang begriffen; selbst die Sonaten von Chopin, Schumann oder Liszt sind eher das Eingeständnis, daß diese Form sich überlebt hatte. Und nun kam ein Zwanzigjähriger, der es auf diesem Gebiete gleichsam aus dem Stand zur Meisterschaft gebracht hatte. Was Schumann an der Musik des jungen Brahms' begeisterte, war die Unerbittlichkeit, mit der hier die melodische Eingebung einer Auseinandersetzung um die Form und Getalt unterworfen wurde. Zwar wurzelte Brahms' musikalische Sprache im romantischen Empfinden, aber die konstruktive Arbeit galt ihm zeitlebens mehr als die intuitive Eingebung. Der geniale Einfall (der im romantischen Denken als die reinste Form des Künstlerischen angesehen wurde) war für ihn allenfalls das spröde Rohmaterial, das erst durch den Schweiß der kompositorischen Ausarbeitung geschmeidig wird.

"Das, was man eigentlich Erfindung nennt, also ein wirklicher Gedanke, ist sozusagen höhere Eingebung; Inspiration, d.h. dafür kann ich nichts. Von dem Moment an kann ich dies 'Geschenk' gar nicht genug verachten, ich muß es durch unaufhörliche Arbeit zu meinem rechtmäßigen, wohlerworbenen Eigentum machen."
(J. Brahms an J. Joachim, 3.4.1873)

"Am Klavier sitzend, fing er an, wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Klavier ein Orchester von wehklagenden und laut jubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Sinfonien, einzelne Klavierstücke, teilweise dämonischer Natur von der anmutigsten Form ..."
(Robert Schumann, "Neue Bahnen", in: Neue Zeitschrift für Musik, 28.10.1853)

Sonate in C-Dur, op. 1

nach oben

In seinem Aufsatz "Neue Bahnen" nennt Robert Schumann die Klaviersonaten von Johannes Brahms "verschleierte Sinfonien" und in der Tat mutet der Klaviersatz des frühen Brahms mit seinen vollgriffigen Akkorden und dem ausladend orchestralen Gestus bisweilen an wie der Klavierauszug einer Sinfonie. Bei aller überschwenglichen jugendlichen Leidenschaftlichkeit scheint Brahms einem allzu sinnlichen, blenderisch-virtuosem Klavierklang absichtlich aus dem Weg gehen zu wollen. Seine Schreibweise ist (im Gegensatz zu Liszt oder Chopin) nicht unbedingt elegant zu nennen, und es hat den Eindruck, als vermeide er bewußt die pianistischen Errungenschaften seiner Zeit, die glanzvoll-virtuose Passage, das Ineinandergreifen der Hände. Statt dessen bevorzugt er weitmaschige Begleitfiguren, wuchtige Akkordmassen und aberwitzige Sprünge. Klangliche Rauheiten entstehen zudem dadurch, daß Brahms die beiden Hände immer wieder entgegengesetzt in die äußersten Baß- und Diskantlagen des Instruments treibt - eine Eigentümlichkeit, die in dieser Konsequenz zuvor nur Beethoven in seinen letzten Klaviersonaten angewandt hatte.

Die Klaviersonate Nr. 1 in C-dur op. 1 hat Brahms wahrscheinlich im April 1852 begonnen und bei der Drucklegung im Dezember 1853 seinem Freund, dem Geiger Joseph Joachim gewidmet, der ihm den Kontakt mit der Familie Schumann ermöglicht hatte. Die Sonate ist allerdings nicht, wie die Zählung vermuten läßt, Brahms' frühestes Werk. (Die fis-moll-Sonate op. 2 und das es-moll-Scherzo op. 4 sind nachweislich älteren Datums.) Durch Tonart, Gattung und Zählung erhält die Sonate jedoch gleichsam einen symbolischen Charakter: Brahms tritt nicht als Revolutionär ins Musikleben, der das Komponieren neu erfunden zu haben glaubt, sondern er bezieht sich mit seinem Opus 1 explizit auf die Tradition der Wiener Klassik. Die Abfolge der Einzelsätze lehnt sich an das klassische Sonatenmodell an: zu Beginn ein Sonatenhauptsatz, daran anschließend ein Andante mit Variationen, ein Scherzo mit ausgedehntem Trio und ein schnelles Finale mit Sonatensatz- und Rondoelementen. Die rhythmische Ähnlichkeit des Kopfthemas mit dem Beginn von Beethovens "Hammerklaviersonate" oder die harmonische Verwandtschaft zur "Waldsteinsonate" sind dabei sicherlich nicht ganz zufällig, sollten allerdings auch nicht überbewertet werden. So sehr sich Brahms auf der einen Seite um klassische Ausgewogenheit und satztechnische Strenge bemüht, so deutlich tritt in der Sonate auch Brahms' romantische Grundhaltung zutage - etwa in den lyrisch rhapsodischen Passagen des ersten Satzes oder in dem Bestreben, Musik und Literatur auch in der Instrumentalmusik zu einer Einheit zu verschmelzen. Dem zweiten Satz hat Brahms den Text eines vermeintlich "altdeutschen Minnelieds" (das aber in Wirklichkeit aus der Feder des Liedersammlers und Dichter Anton Wilhelm von Zuccamaglio stammt) zugrunde gelegt, wobei er durch die Art des musikalischen Satzes den Wechsel von Vorsänger und Chor nachahmt. Und ebenso soll sich die a-moll-Episode im vierten Satz auf das Gedicht "My heart is in the Highland" von Robert Burns beziehen:

Verstohlen geht der Mond auf,
blau, blau Blümelein,
durch Silberwölkchen führt sein Lauf;

bau, blau Blümelein.
Rosen im Thal,
Mädel im Saal,
o schönste Rosa!

Scherzo in es-moll, op. 4

nach oben

Das Scherzo in es-moll op. 4 ist Brahms' früheste erhaltene Klavierkomposition. Entstanden ist das Werk 1851, und wahrscheinlich war es ursprünglich als Satz einer Klaviersonate gedacht. Der Umfang (858 Takte) veranlaßte ihn jedoch, das Scherzo als Einzelstück zu veröffentlichen. Auffällig sind die Ähnlichkeiten zu Chopins b-moll-Scherzo - sowohl in der Gestaltung des Anfangs mit der huschenden Triolenfigur, wie auch das zweite Trio an den Des-dur-Seitensatz erinnert. Brahms erklärte jedoch später des öfteren, er habe Chopins Scherzo zu jener Zeit noch nicht gekannt.

6 Klavierstücke, op. 118

nach oben

Obwohl Brahms als Komponist vom Klavier kam, hat er für dieses Instrument vergleichsweise wenig komponiert. In seinem Schaffen lassen sich drei inhaltlich deutlich voneinander geschiedene Phasen beobachten: In der Frühzeit, bis 1854, schrieb er Sonaten bzw. Sonatensätze, nach einer Pause von acht Jahren schrieb er zwischen 1862 und 1864 die großen Variationen-Zyklen, um sich dann gegen Ende seines Lebens, ab 1878, ausschließlich dem Charakterstück zuzuwenden. Brahms' individuelle Entwicklung spiegelt damit gleichsam die Geschichte der Klaviermusik im 19. Jahrhundert wider. Auch hier verblaßt nach Schuberts Tod (1828) die Geltung der Klaviersonate und wird abgelöst durch das lyrische Klavierstück.

Die späten Klavierstücke op. 116 bis 119 gehören nicht zur Konzertliteratur im eigentlichen Sinne. Hatte Brahms in früheren Jahren noch versucht, emotionalen Überschwang und "konstruktivistisches" Denken miteinander zu verbinden, so verzichtet er nun auf jeden Zierat, auf alles Nebensächlich-Verbindliche. Brahms erweist sich als Architekt, der mit wenigen Grundbausteinen auskommt. Die Zeitgenossen konnten mit dieser kristallinen Klarheit der Tonsprache jedoch nicht viel anfangen, und als Hugo Wolf das (als Schmähung gedachte) Urteil fällte, Brahms komponiere, ohne Einfälle zu haben, sprach er vielen Musikliebhabern aus der Seele. Eben dieses Bestreben, die Musik auf das Wesentliche zu reduzieren, sie von allem Akzidentiellen zu befreien, erklärt aber auch Schönbergs Sympathie für Brahms, weil er selber auf der Suche war nach einer Kompositionstechnik, die ohne überflüssiges Beiwerk auskommt. Vollendet hat Brahms die letzten vier Opus-Sammlungen zwischen November 1892 und November 1893, wobei nicht auszumachen ist, inwieweit diesen Stücken frühere Arbeiten zugrunde liegen. Auffallend ist jedoch der resignative Grundton, der den meisten dieser Kompositionen zu eigen ist, so daß der Brahms-Freund Eduard Hanslick sie einmal als "Brevier des Pessimismus" bezeichnete.

"Der Dichter spricht - der Virtuose hat bei Brahms zu schweigen."
(Walter Niemann)

CD 2

Sonate in fis-moll, op. 2

nach oben

Die Klaviersonate Nr. 2 in fis-moll op. 2 trägt zweifellos autobiographische Züge. Die ersten Kompositionsentwürfe reichen bis zum Herbst 1852 zurück, aber ihre endgültige Gestalt hat die Sonate erst nach dem Besuch im Hause Schumann erhalten. Manche Brahms-Forscher gehen sogar soweit, in dem Werk eine versteckte Liebeserklärung an die Widmungsträgerin Clara Schumann zu sehen. Ganz so abwegig ist diese Vermutung nicht: Der Wechsel von schwärmerischer Melancholie und leidenschaftlichem Trotz, von Humor und Grübelei, Hingebung und energischem Zurückhalten, als ob eine romantisch-träumende Stimmung Gehalt und Gestalt sprengen will, ist offensichtlich, und fis-moll ist zudem auch die Tonart von Florestan und Eusebius, jenen beiden literarischen Gestalten, die Robert Schumann als Ausdruck seines künstlerischen und emotionalen Zwiespalts erfunden hatte, als er in den 30er Jahren um Clara geworben hatte. Drängt sich bei Brahms' erster Klaviersonate der Vergleich zu Beethoven auf, so ist in der formalen Gestaltung der fis-moll-Sonate die Nähe zu Schuberts "Wandererfantasie" unverkennbar. Hier wie dort entwickelt sich das ganze Werk aus einer einzigen motivischen Keimzelle, zu der Brahms angeblich durch das Winterlied des Minnesängers Kraft von Toggenburg angeregt wurde: "Mir ist leide, daß der Winter beide, Wald und Heide, hat gemachet fahl". In seiner liedhaften Gestalt zeigt sich das Motiv am deutlichsten im zweiten Satz, wo es die Grundlage einer ausgedehnten Variationenfolge bildet. Die Variationen leiten unmittelbar in das Scherzo mit seinem all'ungharese-Trio über, das sich somit als Final-Variation deuten läßt. Der vierte Satz schließlich weist - entgegen der Tradition - keine rondoartigen Elemente auf, sondern ist ein verkappter Sonatenhauptsatz mit Exposition, Durchführungsteil und ausgedehnter Reprise. Dazwischen finden sich jedoch immer wieder "statische" Abschnitte mit motivisch freien Passagen, so daß die Struktur am Ende immer mehr aufweicht.

Variationen über ein eigenes Thema, op. 21,1

nach oben

Nachdem Brahms schon 1854 die Unmöglichkeit erkannte, der strengen Architektur des Sonatensatzes die frei schweifende Empfindung des romantischen Geistes einzuverleiben, setzte er sich in den folgenden Jahren intensiver mit dem Variationsprinzip auseinander, ohne jedoch zunächst ein schlüssiges Formmodell entwickeln zu können. Zumidnest wußte er, was er nicht wollte: Die konventionelle variative Vorgehensweise, bei der die Melodie bis zum Überdruß figurativ ausgeziert wird, war ihm ein Greuel. Seine Vorbilder waren Bach mit den "Goldberg-Variationen" und, wie er in einem Brief an den Geiger Joseph Joachim schrieb, Beethoven und dessen Art, mit Melodie, Harmonie und Rhythmus umzugehen.

"Ich mache manchmal Betrachtungen über die Variationenform und finde, sie müßten strenger, reiner gehalten werden. Die Alten behielten durchweg den Baß des Themas, ihr eigentliches Thema streng bei. Bei Beethoven ist die Melodie, Harmonie und der Rhythmus so schön variiert. Ich muß aber manchmal finden, daß 'Neuere' (wir beide!) mehr (ich weiß nicht rechte Ausdrücke) über das Thema wühlen. Wir behalten alle die Melodie ängstlich bei, aber behandeln sie nicht frei, schaffen eigentlich nichts Neues daraus, sondern beladen sie nur. Aber die Melodie ist deshalb gar nicht zu erkennen."
(J. Brahms an Joseph Joachim, Juni 1856)

"Bei einem Thema zu Variationen bedeutet mir eigentlich, fast, beinahe nur der Baß etwas. Aber dieser ist mir heilig, er ist der starke Grund, auf dem ich dann meine Geschichten baue. Was ich mit der Melodie mache, ist nur Spielerei oder geistreiche - Spielerei. Variiere ich die Melodie, so kann ich nicht leicht mehr als geistreich oder anmutig sein oder, zwar stimmungsvoll, einen schönen Gedanken vertiefen. Über den gegebenen Baß erfinde ich wirklich neu, ich erfinde ihm neue Melodien, ich schaffe."
(J. Brahms an Adolf Schubring, Februar 1869)

Die Variationen op. 21,1 von 1857 sind Brahms einziges Variationswerk über ein eigenes Thema. Im Gegensatz zur gängigen Praxis des 19. Jahrhunderts verzichtet er ganz auf den virtuosen Konzertglanz. Aber auch in ihrer konzeptionellen Anlage sind die Variationen op. 21,1 zeituntypisch. Über einer gleichbleibenden harmonischen Grundlage erfindet Brahms unermüdlich neue melodische Gebilde. Die Variationen 1-4 bringen eine Verdichtung des Klanges, in den folgenden drei Variationen wird der kompakte Klavierklang wieder aufgehellt und in den Variationen 8 und 9 bis an die Grenzen des motorisch Machbaren gesteigert. Die Entwicklung gipfelt im dramatischen Espressivo der zehnten Variation. Variation 11 schließlich kehrt mit einer gesangvollen Coda zur Ausgangsstimmung zurück. Gegen Ende zitiert Brahms das Schubert-Lied "Der Wanderer", und zwar das Melodiefragment zu den Worten: "Dort, wo du nicht bist."

8 Klavierstücke, op. 76

nach oben

Die Werkbezeichnungen Intermezzo, Capriccio, Ballade, Rhapsodie, die Brahms seinen Klavierstücken zuteilt, lassen sich nur bedingt vom musikalischen Inhalt her begründen. Allenfalls kann man das Intermezzo als introvertiert, besinnlich umschreiben, während das Capriccio eher lebhafte, scherzando-artige Züge trägt. Die Rhapsodie tendiert zur großen Form, (wobei Brahms durchaus auch die Grenze zur Sonatenhauptsatzform berührt), die Ballade weist auf einen poetischen Hintergrund hin. Wie unschlüssig er sich über die Titelvergabe war, zeigt jene verzweifelte Anfrage bei dem Verleger Simrock anläßlich der Veröffentlichung seiner acht Klavierstücke op. 76: "Wissen Sie einen Titel??!!??!?"

"Ich glaube, man darf dem Publikum von dieser Musik nicht allzuviel hintereinander zumuten. Ein Zyklus reicht für einen Konzertabend."
(Peter Rösel)

"Solche Musik, wie Brahms sie in seinen späten Jahren schrieb, ist eine Art Zwiegespräch. Ich brauche nicht 150 Zuhörer und niemanden, der hustet. Es gibt Musik, wo das wenig stört. Bei Brahms ist es tödlich. Vielleicht ist gerade das Medium Schallplatte für solche Musik besonders geeignet."
(Peter Rösel)

CD 3

Sonate in f-moll, op. 5

nach oben

Die dritte Klaviersonate in f-moll op. 5 komponierte Brahms 1853 noch während seines Aufenthalts bei den Schumanns in Düsseldorf. Hatte er sich in seinen ersten beiden Sonaten noch an die klassische Drei- bzw. Viersätzigkeit gehalten, so beginnt nun die Form auszuufern, ohne dabei an Geschlossenheit zu verlieren: Die fünf Sätze sind symmetrisch angelegt, wobei zwei langsame Sätze von drei schnelleren Sätzen eingerahmt werden. Wie schon in der ersten Sonate suchte Brahms sich für den Andante-Satz einen literarischen Anknüpfungspunkt; diesmal setzte er an den Anfang einen Dreizeiler von H.C. Sternau:

Der Abend dämmert, das Mondlicht scheint,
Da sind zwei Herzen in Liebe vereint
Und halten sich selig umfangen.
(H.C. Sternau)

Der vierte Satz ("Intermezzo") greift das thematische Material des Andante wieder auf, diesmal in düsterem, Trauermarsch-ähnlichem b-moll. Brahms hat in Klammern unter der Satzbezeichnung notiert: "Rückblick", und nach Aussage des Brahms-Biographen Max Kalbeck soll auch diesem Satz ein Sternau-Gedicht zugrunde.

O wüßtest du, wie bald, wie bald
Die Bäume welk und kahl der Wald,
Du wärst so kalt und lieblos nicht
Und sähst mir freundlich ins Gesicht.
(H.C. Sternau)

Die Vermutung, daß es sich bei diesen Gedichtzitaten um eine verschlüsselte Liebeserklärung an Clara Schumann gehandelt haben könnte, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Brahms war von der damals 34jährigen Clara Schumann aufs Höchste fasziniert, und auch Clara konnte sich dem zurückhaltenden Charme und der künstlerischen Ausstrahlung des 20jährigen Brahms kaum entziehen, wie ihren Tagebuchaufzeichnungen im Herbst 1853 zu entnehmen ist. (Siehe die Tagebucheintragung von Clara Schumann vom 3.10.1853)

Variationen über ein Thema von Schumann, op. 9

nach oben

Als Liebeserklärung an Clara Schumann mag man auch die Variationen op. 9 über ein Thema von Robert Schumann deuten. Brahms hat das Werk 1854 mit der Widmung veröffentlicht: "Kleine Variationen über ein Thema von Ihm. Ihr zugeeignet". Als Thema dient das erste der Albumblätter aus Schumanns "Bunten Blättern" op. 99. In der zehnten Variation taucht dann zusätzlich jenes Thema auf, das Clara Schumann einst ihrer "Romance variée" op. 3 zugrunde gelegt hatte und das Robert Schumann dann in seinen Impromptus op. 5 aufgriff. Im Autograph notierte Brahms über dieser Variation, mit der er gleichsam über die kompositorische Hintertreppe in das Privatleben von Clara und Robert Schumann eindringt: "Rosen und Heliotrop haben geblüht." Und ebenso auffällig ist, daß Brahms sich ähnlicher Chiffre bedient wie Robert Schumann, als dieser in den 30er Jahren um Clara warb. Hatte Schumann seinem künstlerischen und emotionalen Zwiespalt in den literarischen Figuren Florestan und Eusebius, Ausdruck verliehen, so unterzeichnete Brahms die Variationen entweder mit "B." (wenn sie eher den strengen kontrapunktischen Prinzipien folgen), bzw. bei den kapriziösen und virtuos angelegten mit "Kr." (Kreisler) in Anlehnung an den exzentrischen Kapellmeister in E.T.A. Hoffmanns Roman "Kater Murr".

Kompositorisches Leitbild für die Variationen op. 9 sind Schumanns Sinfonische Etüden op. 13. Ähnlich wie Schumann geht auch Brahms nur noch von einem einzigen Merkmal des Themas aus und läßt alles unbeachtet, was nicht von Bedeutung ist.

4 Klavierstücke<, op. 119

nach oben

Die kristalline, auf die Essenz reduzierte Tonsprache, die Brahms in seinen letzten Lebensjahren entwickelte, war für viele Zeitgenossen unverständlich. Hugo Wolf urteilte verächtlich:

"Die Kunst, ohne Einfälle zu komponieren, hat entschieden in Brahms ihren würdigsten Vertreter gefunden. Ganz wie der liebe Gott versteht auch Herr Brahms sich auf das Kunststück, aus nichts etwas zu machen."

Der Bach-Forscher Philipp Spitta hingegen schrieb im Dezember 1893 an Brahms, nachdem er die Klavierstücke op. 119 kennengelernt hatte:

"Unausgesetzt beschäftigen mich die Klavierstücke, die von allem, was Sie bislang für Klavier geschrieben haben, so sehr verschieden sind, und vielleicht das Gehaltreichste und Tiefsinnigste, was ich von einer Instrumentalform von Ihnen kenne. Sie sind recht zum langsamen Aussagen in der Stille und Einsamkeit, nicht nur zum Nach-, sondern auch zum Vor?Denken, und ich glaube Sie recht zu verstehen, wenn ich meine, daß Sie derartiges mit dem 'Intermezzo' haben andeuten wollen. 'Zwischenstücke' haben Voraussetzungen und folgen, die in diesem Falle ein jeder Spieler und Hörer sich selbst zu machen hat. Könnte man sie nur recht spielen! [...] Nun wünschte ich nur, daß unsere Virtuosen sie nicht in den Konzertsaal zerren. Ballade, Romanze, Rhapsodie - meinetwegen! Aber die Intermezzi? Mit welch dummem Gesicht wird das Publikum dasitzen."

"Ein Stück wie op. 119,1 ist für jeden anrührend, auch wenn der Hörer das Kompositionsprinzip nicht versteht oder kennt. Mir drängt sich immer der Vergleich zu Alban Bergs 'Wozzeck' auf. Auch da gibt es verschiedene Kompositions- und Formprinzipien. Das hört natürlich kein Mensch. Es ist sogar mit der Partitur nicht einfach zu verfolgen. Trotzdem ist es ein packendes Stück Musik. Ähnlich ist es bei Brahms: Er will sich dem Hörer emotional mitteilen, allerdings auf der Basis bestimmter Konstruktionsprinzipien, die immer gedrängter werden, je weiter das Werk voranschreitet."
(Peter Rösel)

CD 4

Variationen und Fuge über ein Thema von Händel, op. 24

nach oben

Die Variationen und Fuge über ein Thema von Händel op. 24 aus dem Jahre 1861 gehören der reifen Periode an, in der Brahms um das Problem der Form letztlich nicht mehr ringen mußte. Dennoch kreisen seine Gedanken auch in jenen Jahren immer wieder um die Frage, wie er die melodische Eingebung in Form und Gestalt bringen kann. Die konstruktive Arbeit galt ihm zeitlebens mehr als der geniale, romantische-intuitive Einfall (der im romantischen Denken als die reinste Form des Künstlerischen angesehen wurde). Die Idee war für ihn allenfalls das spröde Rohmaterial, das erst durch den Schweiß der kompositorischen Ausarbeitung geschmeidig wird.

"Das, was man eigentlich Erfindung nennt, also ein wirklicher Gedanke, ist sozusagen höhere Eingebung; Inspiration, d.h. dafür kann ich nichts. Von dem Moment an kann ich dies 'Geschenk' gar nicht genug verachten, ich muß es durch unaufhörliche Arbeit zu meinem rechtmäßigen, wohlerworbenen Eigentum machen."
(J. Brahms an J. Joachim, 3.4.1873)

Das Thema entstammt Händels Suite in B-dur aus dem zweiten Band der "Suites de Pièces pour le Clavecin" von 1733. Es ist eine elegante kleine Melodie mit ausgeglichenen Perioden und harmonischer Eindeutigkeit, der Händel selbst fünf konventionelle Variationen beigegeben hatte. Brahms nimmt dieses Thema zum Grundstock eines großartigen Gebäudes, das er gleichermaßen kraftvoll und glänzend wie auch zart und versonnen ausgestaltet. In 25 Variationen entfaltet er eine kaleidoskopartige Fülle von Kompositionstechniken und Stimmungen. Immer wieder werden barocke Stilmittel eingesetzt: ein Siciliano, eine Musette, eine Fantasia cromatica, mehrere streng geführte Kanons und sonstige kontrapunktische Finessen. Die Krönung des Ganzen bildete eine ausladende Fuge, die ihr Thema aus der Sechzehntelbewegung des Themas gewinnt. Sie ist als freie Form mit ausgedehnten Zwischenspielen konzipiert, in die Brahms nochmals sein ganzes kontrapunktischen Können zur Schau stellt - von der Umkehrung des Themas über dessen Vergrößerung bis zu dem machtvollen Orgelpunkt.

"Man sieht, was sich in den alten Formen noch leisten läßt, wenn einer kommt, der versteht, sie zu behandeln."
(Richard Wagner)

4 Balladen, op. 10

nach oben

Die Bezeichnung Balladen für den Zyklus der vier Klavierstücke op. 10 (komponiert 1854) leitet sich von der der literarischen Vorlage der ersten Komposition her. Brahms hat die schottische Ballade "Edward" aus Johann Gottfried Herders "Stimmen der Völker in Liedern" zugrunde gelegt, und damit ein Gestaltungsprinzip aufgegriffen, das er bislang in den langsamen Sätzen seiner Klaviersonaten praktiziert hatte. Die Anfangsworte der Ballade "Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot, Edward" lassen sich ohne Schwierigkeiten der Melodie unterlegen, und auch die weitere dramatische Zuspitzung spiegelt sich in der musikalischen Entwicklung minutiös wieder: die bangen Fragen der Mutter, die ausweichenden Antworten des Sohnes, bis er schließlich gesteht: "Ich hab geschlagen meinen Vater tot" und seine Mutter verflucht: "Denn Ihr, Ihr rietet's mir!" Die Ballade entstand unter dem Eindruck von Schumanns Selbstmordversuch und dessen geistigem Zusammenbruch, wodurch sich auch die freudlose, nördlich-kalte Atmosphäre erklärt. Im Gegensatz zu den Chopin-Balladen sind Brahms' Kompositionen keine ausladenden virtuosen Glanzstücke, sondern in ihrer Länge und formalen Struktur bewußt einfach gehalten.

3 Intermezzi, op. 117

nach oben

Über die drei Intermezzi op. 117 sagte Brahms, sie seien "die Wiegenlieder seiner Schmerzen", ohne näher auf den autobiographischen Bezug einzugehen. In der Tat sind es allesamt melancholisch verschattete, ganz ins Leise zurückgenommene Kompositionen. Dem ersten Intermezzo liegt als Motto das folgende Gedicht aus Johann Gottfried Herders "Stimmen der Völker in Liedern" zugrunde:

Schlaf sanft, mein Kind, schlaf sanft und schön!
Mich dauert's sehr, dich weinen sehn.

Brahms greift damit gegen Lebensende nochmals auf jenes Gestaltungsprinzip der poetischen Inspiration zurück, das vierzig Jahre zuvor für seine langsamen Sonatensätze prägend gewesen ist.

"Das musikalische Kompendium, das sich von Opus 1 bis Opus 119 spannt, ist eine unheimliche Weitung und Veränderung von Inhalten bei einer nahezu gleichbleibenden musikalischen Sprache. Brahms hat ja (ähnlich wie Ravel) zeitlebens ungefähr gleich komponiert. Und dann natürlich die technische Dimension des Werkes! Es gehört zum Anspruchsvollsten, was es fürs Klavier gibt. Und leider Gottes - im Gegensatz zu Liszt oder Rachmaninov liegt es nicht einmal bequem in der Hand. Es ist ein gewaltiger manueller Aufwand, den der Interpret hier betreiben muß."
(Peter Rösel)

"Im Gegensatz zum Überschwang von Opus 1 sind die Spätwerke mit einem Mindestaufwand konstruiert - wie die drei Intermezzi op. 117. Diese Stücke sind ein Musterbeispiel an ökonomischer Schreibweise - und wie bewegend ist das. Da sehe ich keinen Gegensatz."
(Peter Rösel)

CD 5

Variationen über ein Thema von Paganini, op. 35

nach oben

Die Paganini-Variationen op. 35 komponierte Brahms 1862 - als "Geschenk an den Virtuosen", wie er in einem Brief an den Widmungsträger Carl Tausig später schrieb. Und Clara Schumann nannte sie wegen der immensen Schwierigkeiten "Hexen-Variationen". Das Thema entstammt der letzten Caprice aus Paganinis op. 1, die schon Franz Liszt und Robert Schumann zur Vorlage zur Vorlage genommen hatten, als sie sich auf dem Klavier mit der Violinkunst des Teufelsgeigers auseinandersetzten.

Der Variationenzyklus ist einer der wenigen Tribute, die Brahms dem Virtuosentum zollte. Obwohl er sich in jungen Jahren zunächst als Pianist einen Namen gemacht hatte und seine Klavierkompositionen ungeheure manuelle Anforderungen an den Interpreten stellen, gibt es doch nur wenige Momente, in denen Brahms sich auf das Niveau oberflächlicher Fingerakrobatik herabläßt. Als er im Dezember 1893 die "51 Übungen" in Druck gab (ein technisches Kompendium, an dem sich selbst gestandene Pianisten die Finger brechen), schrieb er an seinen Verleger Simrock scherzhaft, das Titelblatt müsse "sehr schön und bunt" werden:

"Ich denke an alle möglichen Folterinstrumente, von den Daumenschrauben bis zur eisernen Jungfrau darauf angebracht, auch vielleicht einiges Anatomische, und alles in schönem Blutrot und Flammengelb."

"Studien für Klavier" war ursprünglich auch der Obertitel der Paganini-Variationen op. 35, der aber dann vom Verleger aus Verkaufsgründen kleingedruckt in die Unterzeile gesetzt wurde. Schon Clara Schumann hatte, als sie die Variationen in einem frühen Stadium von Brahms zum Durchspielen erhielt, Zweifel angemeldet, daß dieses Opus seine Liebhaber finden würde.

"Ich habe sie mit großem Eifer zu studieren angefangen, zum öffentlich Spielen scheinen sie mir doch nicht zu passen, die Kombinationen sind zu überraschend, für den Laien das erste Mal ungenießbar. Ich glaube, es müßten einige harmonisch einfachere dazwischen kommen, man (der Zuhörer nämlich) käme dann mehr zur Ruhe."
(Clara Schumann)

Damals bestand die Variationenreihe noch aus einem einzigen Heft. Aufgrund der kritischen Anmerkungen von Clara Schumann ließ Brahms das Werk zunächst liegen. 1865 nahm er die Arbeit an dem Zyklus wieder auf, arbeitete einige Stücke um, komponierte neue Variationen dazu und teilte das Ganze in zwei Hefte mit je 14 Variationen. Während das erste Heft eher der virtuos-technischen Seite huldigt, stellt Brahms im zweiten Heft größere Anforderungen an die Deklamation des Spielers und behandelt die Veränderungen eher als eine Reihe von Charakterstücken. Vorbild für diese Zweiteilung sind wahrscheinlich Chopins Etüdensammlungen op. 10 und op. 25. Daß Brahms nicht unbedingt an eine zyklische Aufführung der beiden Hefte hintereinander gedacht hat, erhellt sich daraus, daß er das Thema zu Beginn des zweiten Heftes noch einmal in seiner Originalgestalt vorstellt und jedes Heft mit einer eigenen Coda abschließt.

Aber auch in dieser neuen Gestalt fanden die Paganini-Variationen vor Claras Augen wenig Gnade, wie auch die Mehrzahl der Pianisten und Musikkritiker dem Werk eher skeptisch gegenüberstanden. Ihnen erschien der Zyklus allzu sperrig und trotz der pianistischen Schwierigkeiten für den öffentlichen Vortrag nicht ergiebig genug. Selbst Eduard Hanslick, der mit Brahms befreundet war und sich für ihn einsetzte, wo immer es ging, bekundete öffentlich seine Einwände gegen dieses Opus.

"Über die Variationen will ich Dir gern meine ganz offene Meinung sagen, da du es wünschst. Ich habe sie mehrmals ganz genau durchgegangen und, wie Du denken kannst, mit dem höchsten Interesse, das erste Finale kannte ich noch nicht, und manche der Variationen, ich mußte aber jedesmal zu dem Schlusse kommen, daß ich sie in einem Hefte wünschte. Ich kann das Motiv, 2 Hefte zu machen, nicht recht finden, fände künstlerisch genommen dies nur, wenn die 2 Hefte ganz verschiedenen Charakters wären, dann scheint es mir auch gar nicht praktisch für den Verleger. Wer, außer Künstlern, die noch ein ganz besonderes Interesse daran haben, kauft sich 2 Hefte Variationen über ein Thema? Wäre ich Du, ich machte nur ein Heft, ließe einige Variationen weg, dann würde auch das eine Heft nicht zu lang, und wer dann noch beim öffentlichen Spielen eine oder die andere weglassen will, kann es ja noch tun."
(Clara Schumann)

"Das Stück begnügt sich nicht mit den zutage liegenden höchsten Kraft- und Geläufigkeitsproben der Hände, sondern unterminirt diese obendrein mit latenten, insbesondere rhythmischen Schwierigkeiten, welche der Hörer kaum bemerkt und die den Spieler um den Verstand bringen könnten."
(Eduard Hanslick)

"In den Paganini-Variationen hat Brahms etwas ähnliches gemacht wie Chopin in seinen Etüden: Jeder Variation liegt ein manuell-technisches Problem zugrunde. Und das ganz konsequent, überzeugend und mit einer Logik sondergleichen. Er arbeit mit bestimmten stereotypen Figuren, mit Sequenzen, man kann das gar nicht logischer machen. Aber mir drängt sich ein anderer Vergleich auf: der mit den Debussy-Etüden. Dort ist es eine bestimmte musikalische Konstellation: Die quarte, die Sexte oder was auch immer, die das Gestaltungsprinzip bedingt, und danach wird die Musik dann "eingebaut". Und so ähnlich sehe ich das bei Brahms auch. Das musikalische Problem, das Intervall, die Figur, die Sequenz - und da wird dann darauf die Musik abgehandelt."
(Peter Rösel)

2 Rhapsodien, op. 79

nach oben

Zweifel plagten Brahms bei der Titelwahl seiner zwei Kompositonen op. 79, wie der Briefwechsel mit der Widmungsträgerin Elisabet von Herzgenberg belegt. Das Stück in h-moll op. 79,1 trug zunächst die Überschrift "Capriccio", während das zweite Stück unbenannt blieb. Erst nach langem Zögern und auf Drängen seines Verlegers rang er sich zu der Bezeichnung "Rhapsodien" für beide Kompositionen durch. Anders als etwa die ungarischen Rhapsodien von Franz Liszt, die sich durch ihren improvisatorischen Charakter auszeichnen, sind die beiden Brahms-Rhapsodien op. 79 ganz klar strukturiert und stehen damit letztlich im Widerspruch zu ihrem Titel. Vorbild mögen die Rhapsodien des tschechischen Komponisten Wenzel Johann Tomaschek (1774-1850) gewesen sein, die Brahms durch Eduard Hanslick kennengelernt hatte und die er zeitlebens sehr geschätzt hat.

"Was Ihre Frage anbelangt, so wissen Sie, daß ich für das nichtssagende Wort 'Klavierstücke' immer am meisten eingenommen bin, eben weil es nichts sagt; aber das geht wahrscheinlich nicht, und da ist denn die Benennung 'Rhapsodien' wohl die passendste, obwohl die geschlossene Form der beiden Stücke beinahe dem Begriffe des Rhapsodischen zu widersprechen scheint."
(Elisabet von Herzogenberg, Mai 1880)

7 Fantasien, op. 116

nach oben

Die kristalline, auf die Essenz reduzierte Tonsprache, die Brahms in seinen letzten Lebensjahren entwickelte, war für viele Zeitgenossen unverständlich. Hugo Wolf urteilte verächtlich: "Die Kunst, ohne Einfälle zu komponieren, hat entschieden in Brahms ihren würdigsten Vertreter gefunden. Ganz wie der liebe Gott versteht auch Herr Brahms sich auf das Kunststück, aus nichts etwas zu machen." Vor allem in den letzten Klavierstücken op. 116 bis 119 verzichtete Brahms auf alles Nebensächlich-Verbindliche. Diese späten Werke mit ihrem kunstvollen Stimmengeflecht und ihrer ausgefeilten Kontrapunktik. sind nicht sosehr aus einem improvisatorischen Moment heraus zu verstehen als vielmehr aus einem konstruktiven Ansatz. Brahms erweist sich als Architekt, der mit wenigen Grundbausteinen auskommt. Und hieraus erklärt sich auch die Sympathie Schönbergs für Brahms, der selbst nach einer neuen Kompositionstechnik suchte, um eine Musik ohne überflüssigen Zierrat zu schreiben.

"Brevier des Pessimismus"
(Eduard Hanslick über die Fantasien op. 116)

"Die verinnerlichten Spätwerke sind ja allesamt Meisterstücke der kleinen Form. Sie kommen mit kleinsten Motivzellen aus, mit immerwährend gleichen Begleittfiguren, es ist fast eine Art Minimalmusic."
(Peter Rösel)

nach oben