Eine fein heilig Geschicht -
Joseph Haydn: "Il ritorno die Tobia"

Dieser Beitrag ist entstanden als Programmheftbeitrag
zum Europäischen Musikfest der
Internationalen Bachakademie, Stuttgart (1.9.1988)

Ist's ein Geschieht', so ist's ein fein heilig Geschicht'. Ist's aber ein Gedicht, so ist's wahrlich auch ein recht schön, heilsam, nützlich Gedicht und Spiel eines geistreichen Poeten. ( ... ) Also zeigt das Buch Tobias an, wie es einem frommen Bauer oder Bürger auch übel gehet und viel Leidens im Ehestand sei, aber Gott immer gnädiglich helfe und zuletzt das Ende mit Freuden beschließe. Auf daß die Eheleute sollen lernen Geduld haben und allerlei Leiden auf künftig Hoffnung gerne tragen in rechter Furcht Gottes und festem Glauben. (...) Darum ist das Buch uns Christen auch nützlich und gut zu lesen, als eines feines hebräischen Poeten, der kein leichtfertige, sondern die rechten Sachen handelt und aus der Maßen christlich treibt und beschreibt.
Aus Martin Luthers Vorrede auffs Buch Tobie.

Der Inhalt des Buches Tobias

  1. Der alte Tobias aus dem Stamme Naphtali ist ein gottesfürchtiger Mensch. Mit seinem Eheweib Hanna zeugt er einen Sohn, den er ebenfalls Tobias nennt. Dem Stammesgefährten Gabel in der Stadt Rages leiht er zehn Pfund Silber.

  2. Tobias sen. erblindet:
    "Es begab sich aber auf einen Tag, da er heimkam, als er die Toten begraben hatte, und müde war und sich neben eine Wand legte und entschlief, schmeißte eine Schwalbe [Kot] aus ihrem Nest. Das fiel ihm also heiß in die Augen, davon ward er blind. Tobias aber zürnet und murret nicht wider Gott, sondern danket Gott all sein Leben lang."

  3. (Szenenwechsel): Sarah, die Tochter des Raguel, ist von dem bösen Geist Asmodi besessen. Dieser Geist tötet alle Männer, die Sarah heiraten wollen.

  4. (Szenenwechsel): Tobias sen. fühlt sein Ende nahen. Er schickt seinen Sohn in die Stadt Rages, damit er von Gabel die zehn Pfund Silber zurückfordere.

  5. Zu Tobias jr. gesellt sich als Reisegefährte ein gewisser Azarias. Azarias aber ist in Wahrheit der Engel Raphael, der Tobias beschützen soll. Die Mutter zweifelt, ob die Reise ihres Sohne notwendig ist, aber Tobias sen. beruft sich auf sein Gottvertrauen.

  6. (Auf der Wanderschaft): Tobias jr. wird von einem großen Fisch beinahe verschlungen. Azaria/Raphael fordert Tobias auf, den Fisch zu töten und das Herz und die Galle aufzuheben:
    "Wenn du ein Stücklein vom Herzen legest auf glühende Kohlen, so vertreibt solcher Rauch allerlei böse Gespenst von Mann und Frauen, also, daß sie nicht mehr schaden können. Und die Galle vom Fisch ist gut, die Augen damit zu salben, daß einem den Star vertreibe."
    Des weiteren soll Tobias jr. um Sarahs Hand anhalten. Die Bedenken des Tobias wegen all der toten Freier beschwichtigt Azaria/Raphael:
    "Ach will die sagen, über welche der Teufel Gewalt hat, nämlich über diejenigen, welche Gott verachten und allein um der Unzucht willen Weiber nehmen wie das dumme Vieh. Du aber sollst dich deiner Braut drei Nächte enthalten. [...] Wenn aber die dritte Nacht vorüber ist, so sollst du dich zu der Jungfrau zutun mit Gottesfurcht, mehr aus Begierde der Frucht denn aus böser Lust."

  7. Das Hochzeitsfest.

  8. Die Hochzeitsnacht. Mit dem Herzen des Fisches vertreibt Tobias jr. den bösen Geist Asmodi.

  9. Azaria/Raphael fordert währenddessen von Gabel die zehn Pfund Silber bei Gabel ein.

  10. Tobias sen. und sein Eheweib Hanna sorgen sich, warum ihr Sohn so lange ausbleibt. Hanna macht ihrem Ehemann Vorwürfe. - Tobias jr. ist schon auf der Rückreise.

  11. Tobias jr. heilt seinen Vater:
    "Da nahm Tobias von der Gallen des Fisches und salbete dem Vater seine Augen. Und er litt das fast eine halbe Stunde, und der Star ging ihm von den Augen wie ein Häutlein von einem Ei. Und Tobias nahm es und zog es von seinen Augen, und alsbald ward er wieder sehend. Und sie preisten Gott, er und sein Weib und alle, die es erfuhren."

  12. Azaria gibt sich als der Engel Raphael zu erkennen.

  13. Tobias sen. Herrn preist den HERRn.

  14. Ausklang: Und alle waren glücklich bis an ihr Lebensende.

Kommentar

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Soweit die Geschichte des Tobias, wie sie in den Apokryphen des Alten Testaments überliefert ist. Es ist dieselbe Geschichte, die auch Haydn in seinem Oratorium behandelt; allerdings hat der Dichter Giovanni Gastone Boccherini, der Bruder des Komponisten Luigi Boccherini, das Libretto anders aufgebaut: Die lose Aufeinanderfolge von einzelnen Episoden, die sich erst am Ende zu einem geschlossenen Ganzen zusammenfügen, angefangen von den gottgefälligen Werken des Tobias (der im Oratorium der besseren Unterscheidung wegen Tobit heißt), über seine Erblindung und die Abenteuer seines Sohnes bis hin zu der Heilung mag für eine epische Erzählung reizvoll sein; für eine dramatische Gestaltung ist der Stoff in dieser Form zu ausladend.

Aus diesem Grund setzt Boccherini, erst mit dem zehnten Kapitel ein, also zu jenem Zeitpunkt, wo die Eltern ihren Sohn zurückerwarten. Ein dramaturgischer Kunstgriff: die endlose Zeit des Wartens erlaubt erzählerische Rückblenden, ohne daß die dramatische Einheit von Raum und Zeit aufgegeben wird.

In diesem Sinne läuft die ganze "erste Abtheilung" ab. Die eigentliche dramatische Handlung beginnt erst im zweiten Teil, als Tobias seinen Vater heilen will. Und hier setzt auch Boccherinis theatralische Gestaltung ein. Was in der Bibel nur einen kleinen Raum einnimmt (Kap. 11), wird in dem Oratorium ausgeweitet und ausgeschmückt: Zunächst klagt Tobit über die schmerzhafte Behandlung, und nur durch gutes Zureden kann er dazu bewegt werden, stillzuhalten. Dann schmerzt ihn das grelle Tageslicht, so daß er sich seine Blindheit zurückwünscht. Allgemeine Ratlosigkeit und Bestürzung, bis die Schwiegertochter Sarah den klugen Einfall hat, die Augen des Tobit mit einem dunklen Schleier zu bedecken, damit er sich an das Tageslicht gewöhnt.

Was Haydn zu der Vertonung ausgerechnet dieses Librettos bewogen hat, ist nicht bekannt. Entstanden ist das Oratorium für das Konzert der "Wiener Tonkünstlersocietaet" am 2. April 1775. Diese Musikergesellschaft war 1771 von dem Hofkapellmeister Florian Gassmann und den Wiener Musikern gegründet worden als Rentenversicherungsverein "zum Unterhalt ihrer Witwen und Waisen". In der Fasten- und Adventszeit fanden regelmäßig Oratorienkonzerte statt, deren Erlös diesem Zweck zugute kam.

Mit dem "Tobias" bewarb sich Haydn um die Aufnahme in der "Wiener Tonkünstlersocietaet" - was nicht ganz unproblematisch war: Denn aufgenommen wurden nur in Wien ansässige Musiker, und Haydn war damals noch Hofkapellmeister in Esterházyschen Diensten. Um den Vorstand gewogen zu stimmen, stellte er seine Komposition unentgeltlich zur Verfügung - mit dem Ergebnis, daß die Rentenkasse nach der Uraufführung zwar um 1712 Gulden reicher war, Haydn aber noch bis 1790 auf seine Aufnahme warten mußte.

Die Aufführung war nicht nur finanziell ein Erfolg. Die "k.k. privilegierte Realzeitung der Wissenschaften, Künste und Commerzien" schrieb am 6. April:

Der berühmte Herr Kapellmeister Hayden hat durch das von ihm in Musik gesetzte [...] Oratorium, genannt: Die Wiederkehr des Tobias allgemeynen Beyfall erhalten, und seine bekannte Geschicklichkeit abermals auf der vorteilhaftesten Seite gezeiget. Ausdruck, Natur und Kunst war durchgängig in seiner Arbeit so fein verweht, daß die Zuhörer das eine lieben und das andere bewundern mußten. Besonders glühten seine Chöre von einem Feuer, das sonst nur Händel eigen war, kurz, das gesammte, außerordentlieb zahlreiche Publikum wurde entzückt [...]

So groß der Jubel 1775 auch war, die Begeisterung hielt nicht lange an: 1781 plante die Tonkünstlersocietaet eine Wiederaufführung des "Tobias", und man bat Haydn, er möge das Werk kürzen. Haydn war dazu bereit, aber er bestand darauf, daß "ihme (die) Societaet Benefiz Biletten, oder eine andere Bonification für seine Mühe und Spesen versichern" müßte. Unter dieser Bedingung wollte "er sowohl die Symphonie [d.h. die Ouvertüre] als Chori abzukürzen, und auch die Proben und Productionen selbst zu dirigieren unternehmen [...]".

Freikarten oder eine andere Vergütung aber wollte die Gesellschaft dem Komponisten nicht zugestehen, und man beschloß, "diesen Prätensionen [Ansprüchen] wegen künftiger Folgen auszuweichen". Haydn indes erhielt Mitteilung, "daß aus Abgang einer Altistin sein Oratorium nicht produciret werden könne."

1784 kam es dann doch zu einer Wiederaufführung des "Tobia", wobei Haydn diesmal auch ohne Benefiz Billetten oder andere Bonificationen Änderungen vornahm. 1797 wünschte sich dann die Kaiserin Maria Theresia, das Oratorium zu hören, doch mußte die Aufführung abgesagt werden, weil die Orchester- und Chorstimmen nicht auffindbar waren. Die letzte Aufführung zu Haydns Lebzeiten fand am 22. und 23. Dezember 1808 statt, allerdings in einer Bearbeitung seines Schülers Sigismund von Neukomm. Bezeichnend ist, daß der "Tobias" trotz diverser Striche auf zwei Abende verteilt wurde, um die Konzentrationsfähigkeit des Publikums nicht allzusehr zu strapazieren. Bezeichnend aber auch das doppelsprachige Textbuch, das detaillierte Regieanweisungen und szenische Angaben enthält: "Die Handlung geht in Ninive vor", und auf italienisch die zusätzliche Angabe: "Ort der Handlung ist ein ebenerdiger Hof im Hause des Tobit mit verschiedenen Türen. Einige führen züi höher gelegenen Zimmern, andere gehen auf die Landstraße." - Dies besagt aber nichts über eine szenische Aufführung, sondern soll (ähnlich wie wohl auch schon bei Händels Oratorien) die bildliche Phantasie des Zuhörers anregen.

Die Resonanz auf den Tobias im Jahre 1808 war eher mäßig. Joseph Carl Rosenbaum bezeichnete in seinem Tagebuch das Oratorium als ein "veraltetes Machwerk, das nicht gefiel", und Johann Friedrich Reichardt notierte:

Im Burgtheater ward ein sehr altes Oratorium, Tobia von Haydn gegeben, eine seiner frühesten Arbeiten, die man wohl nur eben hervorzog, um auch damit noch sein höchstes Alter zu ehren.

Schuld daran war der Wandel des Geschmacks. Das Wiener Publikum war des alten Oratorienstils überdrüssig geworden. Was am "Tobias" störte, brachte am ehesten Georg August Griesinger in seinen "Biographischen Notizen über Joseph Haydn" (1809) auf den Punkt:

Die Anlage des ganzen Oratoriums ist verfehlt, und viel zu einförmig; von Anfang bis zu Ende folgt auf den wenig interessanten Dialog immer nur eine Arie, ohne allen Wechsel mit Duos und Trios.

Wie sich die Tonkünstlersocietaet ein ideales Oratorium vorstellte, offenbart ein Vertrag mit dem Textdichter Lorenzo Da Ponte vom 19. April 1786. Er sollte

gegen 24 Species Duccaten acht Bücher dergestalt überarbeiten, und liefern [...], daß selbe fürs erste auf vier Haupt Singstimmen gerichtet, in jedem derselben 5 oder 6 Chori, 8 Stück Theils Arien, Duetten, Terzetten, oder Quartetten, nachdem es dem Inhalt des Buchs angemessen seyn wird, enthalten, und die Recitativen ausser einem oder dem anderen höchstens 5 oder 6 Vers zwischen jeder Arie seyn sollen.

Dieses Idealmaß von fünf oder sechs Versen erfüllen bei Haydn nur zwei der insgesamt 14 Rezitative, die anderen Rezitative sind um einiges länger, wobei das umfangreichste Rezitativ ganze 79 Verse zählt.

Vor allem aber dürfte die Länge des ganzen Oratoriums gestört haben. Der Sekretär der Societät, Guiseppe Bonno, beschrieb Ende des 18. Jahrhunderts in anderem Zusammenhang, wie ein Oratorium beschaffen sein müsse, damit es dem Publikum gefalle:

[...] Nur muß ich mir die Freyheit nehmen, in absicht auf das Oratorium zu erinnern, wie nach sich der geschmak des hiesigen Publikums seither dahin geändert hat, daß man die Recitativen ohne Instrumenten so kurz als möglich haben will, und daß überhaupt die ganze Production nicht viel über anderthalb Stunden ohne Konzert dauern soll; da dessen ungeachtet die Poesie unverletzt bleibt, so bitte ich, wenn es diesmal nöthig seyn sollte, nur auf abkürzung der besagten Recitativen in der Musik (:dann im Buch kann der Text immer stehen bleiben, und allenfalls mit einer Nota bezeichnet werden:) den gefälligen Bedacht zu nehmen, damit der Geschmak des Publikums auch von dieser Seite befriedigt werde.

Anderthalb Stunden durfte ein Oratorium dauern - der "Tobia" bringt es ohne Striche auf gut 3 Stunden. Verständlich, daß Haydn gebeten wurde, sein Oratorium zu kürzen. Verständlich aber auch, daß Haydn eine solch umfangreiche Arbeit bezahlt haben wollte. Die Fassung von 1784 stellt einen weniger arbeitsaufwendigen Kompromiß dar: Haydn wandelte etliche der Accompagnato-Rezitative in Secco-Rezitative um. Damit erzeugte er eine stärkere Kontrastwirkung zwischen dem freieren und lebhafter deklamierten Rezitativ und den Arien. In den Arien strich er viele Wiederholungstakte, kürzte die Reprisen und eliminierte die meisten Koloraturen. Aber die gewonnene Zeit verspielte Haydn wieder, indem er zwei Chöre einfügte, um die Gesamtanlage abwechslungsreicher zu gestalten.

So jedenfalls war der "Tobias" für das damalige Konzertleben nicht zu retten. Als Sigismund von Neukomm das Oratorium 1808 für eine Aufführung vorbereiten sollte, orientierte er sich denn auch nicht an Haydns Kürzungen von 1784, sondern legte die Urfassung von 1775 zugrunde. Im Falle der Arien ging Neukomm dabei vorsichtiger zu Werke als Haydn und kam bei den Kürzungen zwangsläufig zu ganz anderen Ergebnissen als sein Lehrer - was Indiz für die Weitschweifigkeit und Redseligkeit der Haydnschen Kompositionen sein mag.

Doch in einem anderen Punkt griff Neukomm erheblich in die musikalische Gestalt ein: Um den Effekt zu steigern, vermehrte er die Instrumente und verstärkte den Klangcharakter: So sind die Corni inglesi durch Klarinetten ersetzt, und die Flöten sind in den Holzbläsersatz integriert. Allerdings zerstörte Neukomm dadurch die ursprünglichen instrumentalen Zuordnungen, wenn die Flöten in der Haydnschen Urfassung etwa die himmlische Sphäre Raphaels charakterisieren oder die Englischhörner bei den Klagearien erklingen.

Eingriffe in die originale Faktur einer Komposition waren Ende des 18. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches; gestrichen und uminstrumentiert wurde meist aus pragmatischen Gründen - sei es, daß die Werke zu lang waren, daß bestimmte Besetzungsvorschriften nicht erfüllt werden konnten oder die Sänger eigene Vorstellungen von der Musik hatten. Im Falle des "Tobias" aber ging es um mehr. Der italienische Oratorien-Stil mit seiner starren Abfolge von Rezitativ und Arie, wie ihn die Librettisten Zeno und Metastasio etabliert hatten, war spätestens seit dem Tod von Nicola Porpora überlebt. Die verschiedenen Bearbeitungen des "Tobias" sind Versuche, die Musik einem veränderten Publikumsgeschmack anzupassen. Gelungen ist dies nicht - der "Tobias" hat sich im Konzertleben nie etablieren können. Aber anders als im Bereich der Oper, wo Haydn die Grenzen traditioneller Schemata nie durchbrochen hat (siehe seinen Orpheus von 1790), gelang es ihm in seinen späteren Oratorien, in den "Sieben Worten" (1785), in der "Schöpfung" (1798) und in den "Jahreszeiten" (1801), einen neuen Stil zu entwickeln, der auch dem gewandelten Zeitgeschmack entsprach.

Literaturhinweise:

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