Guillaume de Machaut -
Musiker, Kleriker, Liebhaber

Dieser Beitrag ist entstanden als Sendemanuskript
für den Süddeutschen Rundfunk, Stuttgart
(Sendung: 3.12.1991 - Alte Musik kommentiert)

Musik-Nr.: 01
Komponist: Guillaume de Machaut
Werk-Titel: Doulz viaire gracieus <Track __.> 1:50
Interpreten: xx
Label: mirror music (LC ____)
008
<LP 3B.> Gesamt-Zeit: 1:50
Technik: letztes Stück der LP

Der Herr, der dieses zarte Liebeslied geschrieben hat, war damals schon weit in den Sechzigern und dazu noch Kleriker an der Kathedrale von Reims. Sein Name: Guillaume de Machaut. Die Adressatin: eine junge adlige Dame aus dem Haus der Armentieres. Was die beiden zueinander geführt hatte, die gerade 16jährige Peronelle d'Armantieres und den greisen Dichter, kränklich, auf einem Auge blind und von der Gicht geplagt - wir wissen es nicht. Unsere einzige Quelle sind die Briefe, die die beiden sich geschrieben haben - und die Machaut auf Bitten seiner Geliebten einige Jahre später literarisch ausgestaltet hat: mit Erzählungen, philosophischen Exkursen, Gedichten und Kompositionen.

Schon die Zeitgenossen zweifelten an dem Wahrheitsgehalt dieser Liebesgeschichte, so daß Machaut sein Buch ausdrücklich überschrieb mit: Le Livre du Voir Dit - zu deutsch: "Das Buch von der wahren Begebenheit".

Was zur Unterhaltung eines höfischen Publikums gedacht war, ist für uns ein aufschlußreiches Dokument über den Sittenkodex des frühen 14. Jahrhunderts. Da ist zunächst die außergewöhnliche Freiheit, die sich ein junges Mädchen gestatten konnte, ohne Anstoß zu erregen; dann die naive Unbekümmertheit, mit der sich diese Liebesgeschichte in aller Öffentlichkeit abspielt. Aber von Pikanterie und voyeuristischer Lüsternheit ist in all den neun Tausend Versen nichts zu spüren. Über der Erzählung liegt vielmehr ein Hauch von Resignation: die Trauer über die verlorene Jugend, die sich nicht zurückholen läßt - was sich auch in der Musik niederschlägt.

Musik-Nr.: 02
Komponist: Guillaume de Machaut
Werk-Titel: Ay mi, dame de valour <Track 1.> 3:10
Interpreten: xx
Label: EMI (LC 0110)
7 63142 2
<Track 1.> Gesamt-Zeit: 3:10

Guillaume de Machaut hat in jungen Jahren ein recht abenteuerliches Leben geführt, soweit wir das aus den spärlich überlieferten biographischen Daten schließen können. Um 1300 geboren, wurde er mit 23 Jahren Erster Sekretär bei König Johann von Böhmen. 14 Jahre lang begleitete er seinen Dienstherren auf Reisen und Kriegszügen. Zwar lernte Machaut auf diese Weise halb Europa und sogar Vorderasien kennen, aber immer wieder klagte er darüber, daß ihm ein weiches, sauberes Federbett lieber sei als das harte Feldlager oder die verwanzten Herbergen.

Ein ruhigeres Leben begann für ihn, als er 1337 für die geleisteten Dienste eine Pfründe an der kathedrale zu Reims erhielt. Da er sich nur um die niederen Weihen bemühte, brauchte er auf die angenehmen Seiten des Lebens nicht zu verzichten, seine Tätigkeit erschöpfte sich darin, einmal am Tag die Messe zu lesen. Im übrigen hatte er Zeit, sich der Dichtkunst und der Komposition zu widmen. Was er schuf, war vornehmlich Liebeslyrik höfischer Prägung. Nur ein einziges Mal hat ihn sein geistliches Amt zu einer Komposition inspriert, zu der Messe de Notre Dame, eine der frühesten polyphon-kontrapunktischen Meß-Vertonungen.

Musik-Nr.: 03
Komponist: Guillaume de Machaut
Werk-Titel: Messe de Notre Dame
Auswahl: Agnus Dei <Track 5.> 3:25
Interpreten: xx
Label: Hyperion (LC ____)
CDA 66358
<Track 5.> Gesamt-Zeit: 3:25

Die Welt Guillaume de Machauts war das Frankreich des 14. Jahrhunderts - jene Epoche, die der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga einmal den "Herbst des Mittelalters" bezeichnete. Es war in Europa eine Zeit des Umbruchs: Während die italienischen Humanisten um Petrarca und Boccaccio sich um die Wiederbelebung des antiken Gedankenguts bemühten, während in den italienischen Städten die Menschen sich von den geistigen Fesseln der Kirche befreiten und in Florenz Banken und internationale Handels-Imperien entstanden, träumte der französische Adel von längst vergangenen Zeiten: von ritterlichen Idealen, von heldenhaften Abenteuern und vom züchtig-verliebten Minnedienst. Allen gesellschaftlichen Entwicklungen zum Trotz wahrte man an den Höfen Frankreichs den Schein einer heilen Ritterwelt. Und obwohl die politische und wirtschaftliche Vormachtstellung des Adels zunehmend schwand, bildete man sich nach wie vor ein, der Mittelpunkt des kulturellen Lebens zu sein.

Es war eine verzweifelte Flucht vor der Realität. Aber bot die Welt nicht genügend Anlaß für eine solche Flucht? Wohin die Zeitgenossen blickten, waren die Anzeichen für das Ende der Welt eindeutig: Die Vertreibung des Papstes aus Rom und sein Exil in Avignon - mit dem Ergebnis, das bisweilen drei Päpste zur gleichen Zeit ihre Legitimation beanspruchten; der nicht enden wollende Krieg der Franzosen gegen England; die verheerenden Hungersnöte und Seuchen ... - Wo man auch sucht in den Aufzeichnungen jener Zeit, bei Geschichtsschreibern und Dichtern, in Predigten und religiösen Traktaten: Es schient, als habe es nur Zwist, Habsucht, Roheit und Elend gegeben. Das Lebensgefühl in Frankreich war damals durchzogen von sentimentaler Erinnerung und großer Schwermut.

Dieser spannungsvollen Welt von schönem Schein und apokalyptischer Endzeitstimmung konnte auch Guillaume de Machaut sich nicht entziehen. In seinem Klagelied "Tel rit au main" beschreibt er die Unbeständigkeit Fortunas. Ihr Rad dreht das Unterste zu oberst, und mancher, der am Morgen lacht, hat des Abends sein Unglück zu beklagen. Den Reichen quält der Geiz, und den Liebenden verzehrt die Eifersucht. Fortuna erscheint wie eine Freundin, süß wie Honig, aber bald schon zeigt sie sich heimtückisch wie eine Schlange, deren Biß nie verheilt. Niemand ist ihrer Zuneigung sicher, denn sie würde ihren eigenen Vater verraten.

Musik-Nr.: 04
Komponist: Guillaume de Machaut
: xx
Werk-Titel: Tels rit au main qui au soir pleure <LP 1A (Anfang)> 4:10
Interpreten: xx
Label: mirror music (LC ____)
008
<LP 1A (Anfang)> Gesamt-Zeit: 4:10

Schon zu Lebzeiten war Guillaume de Machaut eine berühmte und geachtete Persönlichkeit, als Geschichtsschreiber ebenso wie als Dichter und Komponist. Und er selbst war sich seiner Bedeutung wohl bewußt, so daß er mehrere reich illuminierte Prachthandschriften seiner gesammelten Werke anfertigen ließ und sie (gegen entsprechende Bezahlung) hochgestellten Gönnern verehrte. In ganz Europa sang man seine Virelais, Rondeaux und Balladen. Und da nicht jeder Musikliebhaber eine angenehme Stimme besaß, wurden seine Kompositionen auch für den rein instrumentalen Vortrag bearbeitet.

Hier nun zum Abschluß die Ballade "Honte paour, doubtance meffaire", zuerst in der Voklaversion, dann in einer Bearbeitung für Laute und Gambe, wie sie in einer Handschrift aus der oberitalienischen Stadt Faenza überliefert ist. Es musiziert das "Studio der Frühen Musik" unter der Leitung von Thomas Binkley.

Musik-Nr.: 05
Komponist: Guillaume de Machaut
Werk-Titel: Honte, paour, doubtance meffaire
Auswahl: vokal (1. Strophe),
instrumental
<Track 5.>
<Track 6.>
__:__
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Interpreten: xx
Label: EMI (LC 0110)
7 63424 2
<Track 5.6.> Gesamt-Zeit: 4:50
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