Von Quacksalbern und Giftmischern.
Ärzte und Apotheker in der Oper

Dieser Beitrag ist entstanden als Sendemanuskript
für den Deutschlandfunk, Köln
(Sendung: 11.3.1991 - "ARD-Nachtkonzert")

Musik-Nr.: 01
Komponist: Gioacchino Rossini
Werk-Titel: 'Il barbiere di Siviglia'
Auswahl: 1. Akt, 10. Szene (Nr. 7 - Arie)
"Einen Doktor meinesgleichen"
<CD 2, Track 2.> 1:20
Interpreten: Fritz Ollendorf (Bartolo)
Staatskapelle Berlin
Ltg.: Otmar Suitner
Label: EMI (LC 0542)
CMS 7 69345 2
<CD 2, Track 2.> Gesamt-Zeit: 1:20
Archiv-Nummer: ____
Technik: <CD 2, Track 2.> ab 1:14 bis 1:18 folgenden Text überblenden
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:

Wie es einem "Doktor seinesgleichen" am Ende ergeht ... - nun, wir werden auf die Erlebnisse des Signore Bartolo aus Sevilla noch zurückkommen. Soviel ist jedenfalls sicher: In sonderlich gutem Ruf standen die "Doctores der Medizin" im 18. und im 19. Jahrhundert nicht gerade.

Vorurteile, die noch aus der Zeit des Mittelalters stammen, aus einer Zeit, als die Medizin noch nicht als Kunst, geschweige denn als Wissenschaft galt. Es war ein Handwerk, und nicht einmal ein ehrbares: Man brauchte weder Lehrherrn noch Gesellenbrief; die notwendigen Kenntnisse konnte man sich bei einem Barbier oder Bader erwerben, der Haare schnitt, Bärte stutzte - und nebenher Zähne zog und Knochen richtete.

Mit den Heilerfolgen dieser Herren war es denn auch nicht weit her: Egal, ob Kopf-, Hals- oder Bauchschmerzen - die Therapie sah meistens gleich aus: zunächst wurde mit Vorliebe der Geldbeutel der Patienten geschröpft; dann wurde zur Ader gelassen, klistiert und was der unangenehmen und schmerzlichen Dinge mehr sind. So nannte man sie denn damals auch noch nicht "Halbgötter in Weiß", sondern belegte sie mit Ausdrücken wie "Kurpfuscher", "Quacksalber", "Zahnbrecher" oder "Knochenflicker" - je nach ihren Fähigkeiten und persönlichen Vorlieben.

In Deutschland wurden die Verhältnisse erst ein wenig besser, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts die hohe Obrigkeit eingriff und für eine geregelte (und halbwegs vernünftige) ärztliche Ausbildung sorgte. Fortan durfte die Heilkunst nur noch der ausüben, der vom Staat dazu die Erlaubnis erhielt.

Allzustreng sind diese Ausbildungs-Vorschriften aber wohl nicht gewesen. Denn so manch fragwürdige Mediziner-Karriere konnten sie nicht verhindern - wie etwa Anno 1821 im Falle jenes Leipziger Stabs-Arztes offenbar wurde, der nichts anderes im Sinn hatte als seine abstrusen Experimente. In der Hoffnung, die Wissenschaft zu revolutionieren und selbst berühmt zu werden, ließ er den Gefreiten Wozzeck Bohnen essen - wochenlang nichts als Bohnen.

Musik-Nr.: 02
Komponist: Alban Berg
Werk-Titel: Wozzeck
Auswahl: 1. Akt, 4. Szene (Part. S. __
"Was erleb ich, Wozzeck?"
<Track 1-7.> 7:00
Interpreten: Walter Berry (Wozzeck)
Carl Doensch (Doktor)
Orchester des Theatre National de l'Opera, Paris
Ltg.: Pierre Boulez
Label: CBS/Sony (LC ____)
58 DC 444-4
<Track 1-7.> Gesamt-Zeit: 7:00
Archiv-Nummer: ____
Technik: einblenden bei <Track 1.> 25:18 (Index 7)
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Daß es der Verzehr von Bohnen gewesen sei, wodurch Wozzeck schließlich dazu getrieben wurde, seine Geliebte umzubringen, - das soll hier nicht unterstellt werden. Aber angesichts der Wahnvorstellungen Wozzecks hätte man von einem Mediziner sicherlich eine bessere Diagnose erwarten dürfen als jene lapidare Festellung, an welch "schön ausgebildeter aberratio mentalis partialis" der Gefreite Wozzeck doch leide.

Dichtung! - Daß ein solcher Dialog zwischen Wozzeck und dem Stabs-Arzt stattgefunden hat, ist nicht überliefert. Aber die Wirklichkeit sah nicht viel besser aus. - Aus dem medizinischen "Gutachten über den Gemütszustand des Inquisiten Johann Christian Wozzeck, auf Verlangen des Hohen Gerichts eingegeben am 20. September 1821 von Hofrat Dr. Johann Christian August Clarus":

Beim Verhafteten finden sich sehr deutlich die Kennzeichen von moralischer Verwilderung, von Abstumpfung und Gleichgültigkeit. Die Spuren religiöser Empfindung sind viel zu schwach und zu frostig, um ihnen einen Einfluß auf seine Gesinnung zugestehen zu können. So fehlt es diesem Menschen an äußerer und innerer Haltung. Auch zeigt er keine Reue, ist ohne Gewissensangst und erwartet den Ausgang seines Schicksal ohne jede Anteilnahme. Hieraus erhellt sich, daß die geistige Verfassung des Verhafteten kein Merkmal an die Hand gibt, welches auf einen kranken, die Zurechnungsfähigkeit aufhebenden Seelenzustand zu schließen berechtigt.

Dieses Gutachten des Hofrats Dr. Clarus bedeutete für Wozzeck das Todesurteil. Es rief allerdings einige Zeit später in der medizinischen und juristischen Fachpresse großen Widerspruch hervor, so daß der Fall Wozzeck über die Grenzen Leipzigs hinaus bekannt (und schließlich auch literatur- und opernfähig) wurde.

Das Schicksal des Gefreiten Wozzeck führte damals vielen Ärzten vor Augen, daß auch Geisteskrankheiten einer genaueren Diagnose bedürfen. Wie allerdings eine vernünftige Therapie hätte aussehen können, davon hatte man keine Ahnung.

***

Aus dem Gutachten über den Gesundheitszustand des Komponisten Signore Gaetano Donizetti - Bergamo, den 11. Oktober 1847:

Das Ärzte-Konsilium hat den Invaliden eingehend auf sein moralisches Leben wie auch auf seine körperlichen Reaktionen hin beobachtet. Erstens: Allgemeine Dinge gefragt. Keine Antwort erhalten. Zweitens: Nochmals gefragt. Nichts. Drittens: Als die untersuchenden Ärzte seinen Kopf berühren, richtet er seine Augen auf die Beteiligten, ohne eine Antwort zu geben oder ein Zeichen, daß er die an ihn gerichteten Fragen verstanden hat.

Das Konsilium ist zu der Überzeugung gelangt, daß Signor Gaetano Donizetti im Augenblick an einer allgemeinen Lähmung leidet, mit einhergehender Zerstörung von Willen und Geist. Im übrigen ißt er ordentlich, ist gut genährt und schläft friedlich. Sein Geisteszustand jedoch ist so verwirrt und zerstört, daß Signor Gaetano nicht mehr in der Lage ist, seine eigenen Interessen selbst wahrzunehmen.

Ein halbes Jahr später starb Donizetti, ohne daß er nochmals bei klarem Bewußtsein gewesen wäre. Dies also war das traurige Ende eines der bedeutendsten italienischen Opernkomponisten; ein Ende, ausgelöst wahrscheinlich durch eine seit Jahren fortschreitende Syphilis und schließlichem Schlaganfall. Oder, wie es in einem Konversationslexikon von 1866 so taktvoll heißt:

Infolge übermäßiger Anstrengung im Komponieren und einer zügellosen Hingabe an die niederen Gelüste des Lebens fiel er in einen völligen Stumpfsinn, aus dem ihn kein Mittel wieder zu erwecken vermochte.

Bis zu seinem Lebensabend hatte Donizetti einen großen Bogen um den Ärztestand gemacht. Und auch in seinen Opern kommen die "Dottores der Medizin" selten gut weg. Wie etwa im Liebestrank der weitgereiste "enzyklopädische" Doktor Ducamara, der mit mit goldener Kutsche und großem Gepränge in ein entlegenes Bergdorf einzieht und der Bevölkerung sein Wundermittelchen anpreist: gleichermaßen gut gegen Zahnschmerzen und Leberzirrhose, gegen Mäuse, Wanzen und Kakerlaken, für glatte Haut und Kindersegen bis ins hohe Alter. Und das alles für nur drei Lire.

Musik-Nr.: 03
Komponist: Gaetano Donizetti
Werk-Titel: L'elisir d'amore
Auswahl: 1. Akt, Nr. 3 - Chor und Cavatine <CD 1, Track 7.8.> 9:35
Interpreten: Domenico Trimarchi (Dulcamara)
Chor und Sinfonieorchester der RAI, Turin
Ltg.: Claudio Scimone
Label: Phil (LC 0305)
412 714-2
<CD 1, Track 7.8.> Gesamt-Zeit: 9:35
Archiv-Nummer: ____
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So also zieht der vermeintliche Wunderdoktor Ducamara dem einfältigen Volk das Geld aus der Tasche. Dem unglücklich verliebten Nemorino verkauft er schließlich eine Flasche besten Bordeaux - angeblich ein Liebestrank, der jedes Frauenherz dahinschmelzen läßt. Und die Wirkung setzt auch prompt ein: angeheitert und seines Erfolgs sicher spielt Nemorino den Frauenhelden; er wird von den Dorfschönheiten umlagert, so daß die spröde Adina, wegen der Nemorno so leidet, ihre Chancen schwinden sieht und ihrerseits den Dottore um Hilfe bittet.

Musik-Nr.: 04
Komponist: Gaetano Donizetti
Werk-Titel: L'elisir d'amore
Auswahl: 2. Akt, Nr. 10 - Duett <CD 2, Track 10.> 6:55
Interpreten: Domenico Trimarchi (Dulcamara)
Katia Ricciarelli (Adina)
Sinfonieorchester der RAI, Turin
Ltg.: Claudio Scimone
Label: Phil (LC 0305)
412 714-2
<CD 2, Track 10.> Gesamt-Zeit: 6:55
Archiv-Nummer: ____
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Wenn auch die Ärzte in den vergangenen Jahrhunderten in keinem sonderlich guten Ruf standen, ihrem Selbstbewußtsein tat dies keinen Abbruch. Der Komponist Carl Ditters von Dittersdorf, ein Zeitgenosse und Freund von Jospeh Haydn, hat mit seinem Singspiel Doktor und Apotheker nachgerade ein Loblied geschrieben auf den Berufsstand der Mediziner - wäre da nicht bedauerlicherweise in der Musik dieser ironische Unterton, wenn der selbstgefällige Doktor Krautmann seine eigene Wichtigkeit besingt:

Musik-Nr.: 05
Komponist: Carl Ditters von Dittersdorf
Werk-Titel: Doktor und Apotheker
Auswahl: 2. Akt, 1. Szene (Nr. 1 - Arie) <LP 2, Seite 2, Tr. 1.> 4:10
Interpreten: Wolfgang Schöne (Krautmann)
Staatsorchester Rheinische Philharmonie
Ltg.: James Lockhart
Label: RBM (LC 2888)
3101/03
<LP 2, Seite 2, Tr. 1.> Gesamt-Zeit: 4:10
Archiv-Nummer: ____
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Lassen wir nach diesem selbstgefälligen Lobpreis des Doktor Krautmann ohne jeden weiteren Kommentar einen seiner Patienten zu Wort kommen:

Musik-Nr.: 06
Komponist: Carl Ditters von Dittersdorf
Werk-Titel: Doktor und Apotheker
Auswahl: 2. Akt, 2. Szene (Nr. 2 - Duett) <LP 2, Seite 2, Tr. 2.> 1:20
Interpreten: Alois Perl (Gallus)
Wolfgang Schöne (Krautmann)
Staatsorchester Rheinische Philharmonie
Ltg.: James Lockhart
Label: RBM (LC 2888)
3101/03
<LP 2, Seite 2, Tr. 2.> Gesamt-Zeit: 1:20
Archiv-Nummer: ____
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Was Dittersdorf in seinem Singspiel beschreibt, ist jene bis ins Mittelalter zurückreichende Rivalität zwischen Doktoren und Apothekern: der Streit um die Frage, wem von beiden mehr Bedeutung zukommt beim Erhalt der Gesundheit. Daß es in diesem speziellen Fall wieder mal um eine Frau und um Liebe geht, liegt in der Natur des Genres "Oper". Aber Dittersdorf konnte ohne Schwierigkeiten auf tatsächliche Dispute zurückgreifen. Den Heilerfolg schrieb jeder Berufsstand sich selber zu. Wenn aber der Patient erst einmal tot war und hochnotpeinliche peinliche Fragen nach eventuellen "Kunstfehlern" gestellt wurden, wollte keiner das Opfer je behandelt haben, und man fing man an, sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben.

Musik-Nr.: 07
Komponist: Carl Ditters von Dittersdorf
Werk-Titel: Doktor und Apotheker
Auswahl: 2. Akt, 17. Szene (Nr. 10 - Duett) <LP 3, Seite 2, Tr. 2.> 3:00
Interpreten: Wolfgang Schöne (Krautmann)
Staatsorchester Rheinische Philharmonie
Ltg.: James Lockhart
Label: RBM (LC 2888)
3101/03
<LP 3, Seite 2, Tr. 2.> Gesamt-Zeit: 3:00
Archiv-Nummer: ____
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Verweilen wir noch ein wenig beim Berufsstand der Apotheker und ihren fragwürdigen Rezepturen. Wenn man liest, was den Patienten früher alles verabreicht wurde, kann man den Ausdruck "Giftküche" sehr wohl verstehen. Der Liebestrank von Donizettis Doktor Ducamara, jener bekömmliche und wirksame Bordeaux, ist (trotz aller Nebenwirkungen für die Leber) jedenfalls wahre Medizin im Vergleich zu dem, was die Apotheker so verschrieben haben.

Gemäß der "Württembergischen Apothekenordnung" aus dem Jahre 1786 hatten folgende Substanzen in jeder Apotheke vorrätig zu sein:

... und so weiter. Für ein Stärkungsmittel findet sich ebendort folgende Rezeptur:

Zwei junge Hunde, zwölf lebendige Frösche, 8 Lot lebendige Regenwürmer, Quecksilber, Schwefel - das ganze mehrere Stunden in einem Ölsud kochen ...

... fast möchte man meinen, versehentlich in eine mittelalterliche Hexenküche geraten zu sein. Und doch befinden wir uns im 18. Jahrhundert, mitten im Zeitalter der Aufklärung.

Haydns Apotheker mit Namen Sempronio hat für solche Rezepturen allerdings wenig übrig, wie ihn überhaupt die Pharmazie nicht sonderlich zu interessieren scheint. Lieber beschäftigt er sich mit Zeitunglesen und dem Studium von Landkarten; er träumt vom Reisen, von fremden Völkern und überlegt, wie er es anstellen muß, um sein reiches Mündel Grilletta zu ehelichen.

Am Schluß kommt dann doch alles ganz anders als geplant. Unredliche Notare, gefälschte Urkunden und eine Abordnung angeblicher Türken, die die Einrichtung verwüsten, machen unserem Apotheker das Leben zur Hölle, bis er schließlich von seinen Eheplänen Abstand nimmt und seinem Mündel und ihrem Liebhaber den Willen läßt.

Musik-Nr.: 08
Komponist: Joseph Haydn
Werk-Titel: Lo speziale
Auswahl: 2. Akt, Nr. 19 - Finale (Quartett) <Track 22.> 4:30
Interpreten: Attila Fülöp (Sempronio)
Istvan Rozsos (Mengone)
Magda Kalmar (Grilletta)
Veronika Kincses (Volpino)
Franz Liszt Kammerorchester, Budapest
Ltg.: György Lehel
Label: HUNG (LC ____)
HCD 11 926-2
<Track 22.> Gesamt-Zeit: 4:30
Archiv-Nummer: ____
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Warum nur sind sie alle nur auf's Geld aus - die Apotheker und Ärzte? Der Apotheker Sempronio will sein Mündel ehelichen, weil ihn eine reiche Mitgift erwartet, und Rossinis Dottore Bartolo trägt sich des schnöden Geldes wegen mit denselben Absichten. Aber auch er, den man (laut eigener Aussage) angeblich nicht betrügen und über's Ohr hauen kann, muß schließlich klein beigeben: Zwar ahnt er, daß sein Mündel Rosina etwas im Schilde führt, und bald schon kennt er auch den Namen seines Widersachers; aber gegen soviel Dreistigkeit, wie sie dieser ominöse Graf Alamviva an den Tag legt, ist er letztlich doch machtlos. Wer vermag denn auch, in all dem häuslichen Chaos noch die Zusammenhänge zu begreifen: die heimlichen Briefe und falschen Schriftstücke? die vermeintlichen Notare? daß ein betrunkener Soldat laut pöbelnd Einquartierung begehrt? Und daß zu guter Letzt der angeblich so sterbenskranke Gesangslehrer Don Basilio plötzlich kerngesund im Zimmer steht?

Musik-Nr.: 09
Komponist: Gioacchino Rossini
Werk-Titel: Il barbiere di Siviglia
Auswahl: 2. Akt, 4. Szene (Nr. 13 - Quintett) <CD 2, Track 7.> 5:45
Interpreten: Luigi Alva (Almaviva)
Enzo Dara (Bartolo)
Teresa Berganza (Rosina)
Hermann Prey (Figaro)
Paolo Montarsolo (Basilio)
London Symphony Orchestra
Ltg.: Claudio Abbado
Label: DGG (LC 0173)
415 695-2
<CD 2, Track 7.> Gesamt-Zeit: 5:45
Archiv-Nummer: ____
Technik: ausblenden bei <CD 2, Track 7.> 5:45
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