Czerny: Pianoforte-Schule ... op. 500,III

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Kap. 1 [ b / 1. Teil]

[b] Von dem musikalischen Accent, oder Nachdruck, der auf einzelne Noten kommen muss.

<5> § 1. Man weiss, dass jede Sprache aus langen und kurzen Silben besteht, das heisst, aus solchen, welche gedehnt, oder gewichtig ausgesprochen werden müssen, also auf welche der Accent kommt, und aus solchen, welche kurz und ohne Nachdruck lauten.

In folgenden Worten, z.B:

º __ º __ º __ º
Ver- gan- gen- heit und Zu- kunft.

sind die mit  __  bezeichneten Silben lang, und die mit  º  bezeichneten kurz, und wer diese Worte auf verkehrte Art aussprechen wollte, würde sie lächerlich, ja fast sinnlos machen.

§ 2. Ganz dasselbe ist mit den musikalischen Ideen der Fall, wo der Ausdruck stets auf die geeignete Note kommen muss. Wenn sich dieses in der Musik auch nicht so genau durch Regeln festsetzen lässt, wie in der Sprache, so leitet doch das richtige Gefühl für Wohlklang, Deutlichkeit, Rhytmus, und vorzüglich für den Charakter jeder eben vorzutragenden Stelle darauf, dass man die musikalische Deklamation nicht verfehle, und sich dem Zuhörer im Ausdruck seiner Gefühle möglichst verständlich mache. Meistens setzen die neuen Tonsetzer mit Genauigkeit die Zeichen zu jeder Note, welche sie besonders betont wünschen (nämlich > , ^, rf, sf, fz, fp, [...] u.d.g.) und in dem Falle hat der Spieler nur diese Zeichen genau zu beachten.

Wo dieses aber nicht der Fall ist, können im Allgemeinen folgende Regeln dienen:

  1. Jede Note von längerem Werthe muss mit mehr Nachdruck angeschlagen werden, als die kürzere, welche ihr vorangeht oder nachfolgt. Z.B:

[Notenbeispiel 05-2]

Hier muss in der rechten Hand jede halbe Note den Accent erhalten, also mit mehr Nachdruck gespielt werden als die Vierteln.

<6> Da die ganze Stelle piano ist, so hüthe man sich, diesen Nachdruck bis zum Forte zu steigern: er darf höchstens ein Mezza voce sein.

Wäre jedoch die ganze Stelle m.v. bezeichnet, so müsste der Nachdruck schon dem Forte selber nahe kommen.

Die Begleitung der linken Hand nimmt hier an diesem Ausdruck keinen Theil, weil sie in einfachen Achteln fortschreitet. Bestünde aber der Satz in beiden Händen aus gleichen Noten, so müssten beide Hände gleichen Nachdruck geben. Z.B:

[Notenbeispiel 06-1]

Noch eine wichtige Bemerkung ist über dieses Beispiel zu machen. Bei dem Ausdruck muss der Spieler so viel als möglich Monotonie (Einförmigkeit) vermeiden.

Da nun im gegenwärtigen Satze in jedem Takte eine halbe Note vorkommt, so erfordert dieser Umstand, dass ein- oder zweimal jener Nachdruck nicht angebracht werde.

Dieses geschieht hier am schicklichsten im 4ten und im 8ten Takte. Demnach muss das Cis (im 4ten Takte) und das D (im 8ten Takte) entweder mit gar keinem oder nur mit weit schwächerem Ausdruck angeschlagen werden.

Diese Änderung kann desshalb nur in den beiden bezeichneten Takten Statt finden, weil da gerade ein Abschluss der Idee befindlich ist, (nämlich, im 4ten Takt eine Halbcadenz und im 8ten eine vollkommene Cadenz) und weil demnach das Ganze auch in dieser Rücksicht eine Symmetrie (Gleichmass) erhalten muss.

  1. Dissonierende (das heisst: übelstimmende) Accorde werden gemeiniglich etwas stärker ausgedrückt als die nachfolgenden consonierenden (oder wohlstimmenden). Z.B:

[Notenbeispiel 06-2]

Obwohl diese Stelle durchaus Forte vorzutragen ist, so legt das Gefühl doch auf die mit + bezeichneten dissonierenden Accorde noch etwas mehr Nachdruck, welcher jedoch das Taktgefühl und den Rhytmus nicht stören darf.

Einzelne Noten der Melodie, die, als durchgehende Dissonanzen zur Begleitung übel stimmen, werden besser sehr sanft gespielt, besonders, wenn die Stelle langsam sein muss. Z.B:

[Notenbeispiel 06-3]
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