Kullak: Ästhetik des Klavierspiels

Zweites Vorwort zur zweiten Auflage.

zurück | weiter

<VII> Das Klavierspiel steht jetzt auf dem Höhepunkte einer abgeschlossenen Entwicklung. Seine Technik ist nach allen Seiten hin ausgebeutet, so daß neue Errungenschaften auf diesem Gebiet kaum wahrscheinlich sind. Dank einer immer tüchtiger sich entfaltenden Methodik ist ein brillantes Spiel selbst in Dilettantenkreisen ziemlich alltäglich geworden. Die reproduktive Genialität eines Liszt, Bülow, Rubinstein, Tausig hat dem spröden Instrumente abgezwungen, was irgend im Bereich seiner klanglichen Leistungsfähigkeit liegt. Und was die Klavierliteratur anlangt, so ist ihr neuer Zuwachs in keiner Weise bedeutend genug, um den Blick über den vor Augen liegenden Stoff zu trüben. Der Strom der allgemeinen musikalischen Entwicklung wogt heutzutage vorzugsweise nach einer Richtung, die mit dem engumgrenzten Gebiet des Klavierspiels wenig oder gar nichts zu thun hat. Desto freiere Entfaltung vergönnt die jetzige Epoche der Methodik sowohl als der ästhetischen Kritik. Denn die von keinem Drängen und Streben der Gegenwart verwirrte Uebersicht über ein fertig vorhandenes Material ist das, dessen sie zumeist bedürfen.

Die "Aesthetik des Klavierspiels" hat den Zweck, unsere Kunst sowohl in philosophischer als pädagogischer Betrachtungsweise erschöpfend zu behandeln. Es steht mir nicht zu, <VIII> mich an dieser Stelle über das Glückliche jener Idee oder das Gelingen ihrer Ausführung auszulassen. Mag das Werk für sich selbst sprechen; seine Feuerprobe hat es ja bereits bestanden. Nur einen Gesichtspunkt hebe ich, dem Urtheil des Lesers vorgreifend, heraus, um die Grundsätze in's richtige Licht zu stellen, die mich bei der Umarbeitung der Aesthetik geleitet haben. Ihr Schwerpunkt neigt sich nämlich weit mehr zu einer geistvollen Methodik des Klavierspiels hin, als zu einer rein philosophischen Reflexion. Hätte der Verfasser nur die Absicht gehabt, von einem kleinen Gebiet des Kunstganzen ausgehend, Aufschlüsse über das Schöne zu erhalten, die eine abstrakte Deduction nicht zu erzwingen vermochte, so bedurfte es keines so sorgfältigen Eingehens auf alle technischen Einzelheiten. Überdies wird eine wissenschaftliche Erledigung der wichtigsten Frage des musikalisch-ästhetischen Gebietes - nämlich nach etwaigen, in der Tonkunst inhaltlich auftretenden psychischen Momenten - in diesem Buche gar nicht angestrebt. Folgerecht müssen einzelne Partien der Vortragslehre mehr den Eindruck von anregenden Aphorismen machen, als von Gliedern eines festgefügten Systems.

Ich habe deshalb die Aesthetik überhaupt als ein Schulwerk aufgefaßt. Seine Originalität liegt in einer derartigen Verlegung des Standpunktes, daß er nicht durch Uebungsbeispiele das mechanische Können steigern will, sondern, indem es Technik und Vortrag gleichermaßen umfaßt, durch steten Hinweis auf die Gesetze, die theils der allgemeinen Kunstlehre, theils der Musikphilosophie im besondern zugrunde liegen, der Leistungsfähigkeit des Spielers eine geistige Basis zu geben strebt.

<IX> Man wird es mir hiernach nicht als willkürliche Gewaltsamkeit verübeln, wenn ich bemüht war, philosophische Erörterungen, die der Sache nicht unmittelbar dienten, in der neuen Ausgabe zu vermeiden, die nothwendigen ästhetischen Auseinandersetzungen jedoch auf ein knapperes Maaß zu reduciren. Eine größtmögliche Gemeinverständlichkeit ist einem solchen Schulbuch unerläßlich.

Die sonstigen Veränderungen, die das Werk erfahren hat, sind theils formeller Art, theils bringen sie Neues hinzu. Was die ersteren anlangt, so veranlaßte das Bedürfniß eines präciseren Ausdrucks, einer schärferen Disposition viele Kürzungen und Umarbeitungen von größerer und geringerer Bedeutung. Dem einsichtsvollen Leser, der beide Ausgaben vergleicht, wird der Grund und, wenn ich dies hoffen darf, auch die Berechtigung derselben nicht entgehen. Verschiedene Kapitel, namentlich der Vortragslehre, haben so eine wesentlich neue Physiognomie erhalten. Auch die Auswahl der dort vorkommenden Notenbeispiele ist theilweise eine andere geworden.

Meine selbstständigen Artikel für die "Aesthetik des Klavierspiels" liegen theils in der Fortsetzung der beiden historischen Kapitel vor (Kap. 2 u. 3), theils beziehen sie sich auf technische Spezialitäten, die zu des Verfassers Zeit wohl geübt wurden, ohne jedoch zur Systematisirung reif zu sein. Dahin gehört das Legatospiel mit Hand und Arm (Kap. 7) und noch ein anderweitiger in Kap. 9 erörterter Zweig der Armtechnik. Die Lehre vom Oktavenspiel habe ich im Anschluß an die Arbeiten Th. Kullak's aus methodischen Gründen neu verfaßt. Ferner ist das elfte und, mit Ausnahme der Schlußbemerkungen <X> über Improvisation, das erste Kapitel ganz von meiner Hand. Der Einfluß Ad. Kullak's auf diese Abhandlungen ist allgemeinerer Art.

Wohl weiß ich, daß ich eine schwere Verantwortlichkeit auf mich lade, dem Publicum ein bewährtes Buch in wesentlich veränderter Gestalt zu übergeben. Ich finde den Muth, dies zu thun, nur in dem Bewußtsein, daß mich bei all meinen hierhergehörigen Arbeiten eine aufrichtige Verehrung für das innerlich durchaus tüchtige Werk geleitet hat, dem ich selbst viele der schönsten Anregungen verdanke. Nichts würde mich mehr freuen, als wenn es mir geglückt wäre, zu seiner möglichst ausgebreiteten Wirksamkeit ein wenig beizutragen.

Herzlich danke ich Herrn Prof. Dr. Th. Kullak, meinem hochverehrten Lehrer, für die Freundlichkeit, mit der er mir bei der Herstellung dieser Ausgabe rathend zur Seite gestanden hat.

[Berlin] Im Mai 1876.

Hans Bischoff

zurück | weiter
nach oben