Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 4

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Unter der großen Summe aller Modificationen, denen die Handstellung unterliegt, lassen sich zwei Hauptformen als eben so viele, gleichberechtigte Prinzipien durchführen, und da die Freiheit nicht der Anfang, sondern der letzte und höchste Schlußpunkt jeder Schule ist, so ist es zweckmäßig, je nach der Neigung und Fähigkeit einer vorliegenden Schülerhand, sich für eins bestimmt zu entscheiden, es ganz streng durchzuführen und allmälig erst freierer Gestaltung zu überlassen. In vielen Fällen wird es auch zweckmäßig sein, das eine Prinzip eine Zeit lang festzuhalten, sodann das andere gleichfalls anzueignen, und wenn so die Grundformen in ihrer scharfen Sonderung ganz geläufig geworden sind, allmälig dem Bedürfnisse des Momentes die Entscheidung der Wahl zu überlassen. Eine vollkommen geschulte Hand muß eben so sehr das eine als das andere Prinzip verstehen; nur in diesem Falle wird sie sich in den Zwischenmodificationen, die aller Augenblicke durch figurative Verhältnisse der Tonfolge und die Grade der dynamischen Nüancirung eintreten, mit vollendeter Gewandtheit benehmen.

Hier folgt die Beschreibung beider Formen.

  1. Die Handdecke befindet sich mit dem ersten, vom Knöchelgelenk anhebenden Fingergliede, mit dem Handgelenke und dem Vorderarme in einer horizontalen Linie. Die Finger stehen gekrümmt auf den Tasten, so daß das Vorderglied beinahe senkrecht die letzteren berührt. Der Nagelwuchs, der bei verschiedenen Händen nicht immer gleiche Beschaffenheit hat, entscheidet darüber, ob das besprochene <129> Vorderglied ganz oder nur annähernd senkrecht steht. Berührt der Nagel trotz seiner möglichsten Abkürzung die Taste, so ist die erwähnte senkrechte Stellung so weit in eine dachartig schräge umzuändern, bis der Schall des Nagels beim Anschlage aufhört. Die Fingerspitzen bilden nur annähernd die von Bach festgehaltene gerade Linie. Genau genommen ist es eine gekrümmte, in welcher die Finger 3 und 2 am weitesten vorstehen, der vierte ein wenig, der fünfte und der Daumen noch weiter zurücktreten. Der fünfte legt sich dabei etwas flacher auf die Tasten als die Finger 2, 3, 4. Der Daumen ist auch gekrümmt, nur hat seine Krümmung natürlich seiner Lage gemäß eine andere Richtung; sie geht mehr horizontal als senkrecht nach innen. Die Entfernung der Finger von einander wird durch die räumlichen Verhältnisse der Tasten geboten. Es ist dabei von der Normallage auszugehen, worin die fünf Finger auf eben so vielen neben einander liegenden Untertasten stehen. Die Hand steht ein wenig auswärts gerichtet. Dies ist für alle Figuren, in denen nicht mit dem Daumen untergesetzt wird, Regel. Sobald Untersätze und Uebersätze eintreten, wird die Hand ein wenig einwärts gehalten. Jeder Finger hält genau die Mitte des ihm zugewiesenen vorderen Feldes der Taste besetzt. Nach einem in der ganzen Methodik nicht allein zulässigen, sondern empfehlenswerthen Grundsatze wird jede Aufgabe von irgend einer Schwierigkeit leichter und schneller überwunden, wenn sie vorher in der Richtung dieser Schwierigkeit etwas erschwerter und verschärfter vorgelegt wurde. - Ist die größere Schwierigkeit bewältigt, so istdie Erfüllung des ursprünglich gewollten leichteren Maaßes gesichert. Dies führt zu folgender Anwendung:

    Es ereignet sich nun beständig, daß die horizontale Linie, die vom Ellenbogen an bis zum Ende des ersten Gliedes am dritten Finger fortlaufen soll, von den Schülern durch eine Senkung am Handgelenke vernachlässigt wird. Deßhalb kann ohne Nachtheil eine <130> geringe Erhöhung des letzteren gefordert werden, so daß der Vorderarm ein wenig schräg nach dem Handgelenke hin in die Höhe geht. - Ferner macht sich ein beständiger Hang bemerklich, die angegebene Horizontalität durch ein Heraustretenlassen der Knöchel nach der entgegengesetzten Seite hin zu verletzen. Auch hierbei kann die Forderung dahin gestellt werden, daß die Knöchel bis zu einiger Vertiefung herabgedrückt werden. Auf diese Weise bildet die früher geforderte Horizontalität eine wellenartige Linie, die im Handgelenke ein wenig in die Höhe, in den Knöchelgelenken in die Tiefe und in den ersten Fingergliedern wieder in die Höhe steigt.

    Was nun die Bewegung der Finger in dieser Form des Spielapparates betrifft, so repräsentirt das erste Glied den Stiel eines Hammers, die anderen aber den abwärts gehenden Kopf desselben. Die Krümmung des Fingers muß straff festgehalten werden, und das Gefühl der Lockerheit besteht nur im Knöchelgelenk. Ist der Nagelwuchs von Natur so beschaffen, daß trotz aller Verkürzung und selbst bei etwas schräg gehaltenem Vordergliede ein Aufschlag des Nagels auf die Taste unvermeidlich ist, so ist im Anfange ein Spiel auf dem letzteren zu gestatten. Das Prinzip dieser Handstellung hält fest an einer unveränderlich gekrümmten Form des Fingers.

  2. Die zweite Art der Handstellung ist folgende. Die Handdecke geht von den Knöcheln an, nach dem Handgelenke zu, ein wenig abwärts, also der vorhin beschriebenen Richtung gerade entgegengesetzt. Die Form der Finger ist mehr ausgestreckt. Hier herrscht nirgends die geringste Anspannung. Bei der vorigen Stellung war mit dem Festhalten der Krümmung im vorderen Fingergelenk eine Anspannung verbunden, auch ist das Horizontalhalten der genannten Linie vom Ellenbogengelenk an bis zum dritten Finger, oder wohl gar das Hochhalten des Handgelenkbuges und das Eindrücken der Knöchel ohne eine solche nicht ausführbar. Erst lange Gewohnheit <131> vermag dieser Anspannung den Charakter der Natürlichkeit und Zwanglosigkeit anzueignen, so daß diese nicht mehr empfunden wird. Bei der zweiten Handhaltung ist das ruhige Hängenlassen eigentliches Prinzip. Der Naturstoff wird von Anfang an so wenig wie möglich einer Einschränkung unter eine Regel unterworfen, und seine Kräfte werden aus dem Gefühl seiner vollkommensten Bequemlichkeit entwickelt.

Die Anschlagbewegungen verhalten sich nun in beiden Prinzipien folgendermaßen. - Ein Aufheben des ersten Fingergliedes ist beiden gemeinschaftlich erste Anforderung des Anschlags; das Niederfallen muß dementsprechend mit einem festen Erfassen der Taste behufs [zum Hervorbringen] eines deutlichen Tones verbunden sein. - Während die hohe Handstellung aber bei gekrümmter Form und eingedrückten Knöcheln das Aufheben angestrengter zu Wege bringt, und auch nicht so weit in die Höhe treiben kann, hat die niedrige Handstellung darin einen viel freieren Spielraum und geringere Anstrengung. Da der Finger meist ein wenig ausgestreckt liegt, oder die Spitze nur sehr wenig krümmt, so kann er zum Schlage weiter ausholen, und kommt in der Bewegung dem Hämmermechanismus näher, während der gekrümmte Finger darin beschränkter ist, aber wieder in der Form sich dem letzteren anschließt. Bei gekrümmter Handhaltung erhebt sich das erste Fingerglied etwa so hoch, daß es, wofern der Handgelenkbug heraustritt, mit demselben in eine horizontale Linie kommt, unterhalb welcher die Vertiefung liegt, die durch das Eindrücken der Knöchel entsteht. Bei strenger Horizontalität der Handdecke erhebt sich jedoch das erste Fingerglied über die Ebene der letzteren. Die Handstellung der zweiten Art hingegen mit herabhängendem Handgelenk fordert, daß die Fingerspitze im Moment des Ausholens oder Aufhebens hoch über die Handdecke zu stehen kommt und von dieser Höhe herab niederfällt. Es ist dabei gleichgültig, ob der Finger im Momente des Aufhebens gerade ausgestreckt wird, oder <132> sich ein wenig krümmt; im Momente des Niederfallens macht sich das Letztere von selbst. Ein ganz ausgestreckter Finger kommt in den seltensten Fällen vor.

Was nun das Erfassen der Taste betrifft, so schnellt der gekrümmte Finger, vermöge der Reaction gegen die durch das Eindrücken der Knöchel hervorgerufene Anspannung im Aufheben, stahlfederartig auf die Taste. Die straffgehaltene Krümmung der Fingerspitze stößt mit einem festen Widerstande gegen die letztere; die ganze Bewegung hat einen mäßigen Spielraum, und durch das Herabhängen der Fingerspitze ist die Höhe des Fallbogens, den der anschlagende Punkt gegen die Taste beschreibt, beschränkt. Man kann sagen, der Finger übt einen Stoß gegen die Taste aus. - Bei der anderen Handhaltung beschreibt der Finger eine bogenartige Fallinie. Soll er recht im Sinne dieses Prinzips anschlagen, so muss er sich beim Ausholen wenigstens im Willen so benehmen, als ob er gegen eine senkrecht stehende Tastenfläche zu operiren hätte. Er muß möglichst weit von hinten ausholen und gegen die Taste fallen. Hier herrscht also kein Stoßprinzip, sondern ein Fallprinzip. - Da der Finger aber nicht durch eine in der Knöchelpartie hervorgerufene Anspannung gegen die Taste geschnellt wird, so geht er, so groß auch der Vortheil sein mag, den er auf der einen Seite voraus hat, doch desjenigen verlustig, den der gekrümmte Finger der ersten Haltung im Niederschnellen hat. - Der letztere hat im Aufheben zwar die größere Anstrengung, bedarf aber beim Herunterfallen nur der halben Kraft im Vergleich mit dem Finger der zweiten Form. Der lang gestreckte, weit ausholende Finger muß ein Druckprinzip mit dem Fallprinzip vereinigen, er muß im Momente des ihm sehr erleichterten Ausholens die Intention des forcirten Herabdrückens von Anfang an mit im Gefühle haben. - Denn das weite Ausholen neigt nur halb so stark zum Niederschlage, als das mit einer Anspannung verbundene des gekrümmten Fingers. - <133> Die Individualisirung jedes einzelnen Fingers, sowie die Abwägung ihrer Kraftentäußerungen zur Egalität, ist selbstverständlich in beiden Prinzipien unerläßliche Aufgabe. - Auch bedarf es keiner Erwähnung, daß im Zusammenhange diejenige Höhe des Ausholens, die dem langgestreckten Finger als Uebung vorhin zuertheilt wurde, in der Praxis sich zu einem solchen Maaße einschränkt, welches sich aus der Anforderung schneller Tonverbindungen von selbst ergiebt. - Die Anschläge mit dem Handgelenk folgen in beiden Prinzipien konsequent denen der Finger. - Die höher gehaltene Hand gestattet geringere Schwingungslinien als die niedrige, die in einer viertel kreisartigen Bogenschwingung die Hand gegen die Taste wirft. Der Erfolg ist auch hier der nämliche. Die hohe Form hat den Vortheil der Stoßkraft und bedarf nicht derjenigen Anstrengung, des Druckes, den die weiter ausholende Hand mit der größeren Schwingung verbinden muß.

Dies sind im wesentlichen die Kennzeichen beider Handstellungen. - Welche ist die bessere? Die Beantwortung dieser Frage läßt sich nicht unbedingt ertheilen. Jede hat ihre Vor- und Nachtheile, jede wird sich an geeigneter Stelle als die bessere erweisen. Hört man zwei Spieler, die einseitig in einer Form gebildet sind, neben einander, so wird der mit krummen Fingern einen bestimmten, etwas spitz prallen, graziösen Ton haben, der andere einen weicheren, lockeren, nicht so bestimmt aber perlender klingenden. In starker Tongebung wird die gekrümmte Hand einen sehr bestimmt gebildeten, aber nicht ganz die Idee der Anstrengung vermissen lassenden Anschlag erzeugen, die lang hingestreckte Hand aber wird auch eine große, obwohl nicht so entschiedene Tonfülle hervorbringen und die Stärke mit einem weichen Klang verbinden, wo es auf schnelles Legato ankommt. Im Staccato aber wird der krumme Finger den Vortheil des Perlenden auf seiner Seite haben, da er die Taste bestimmter, hammerartiger behandelt; die horizontale Hebellinie des <134> gestreckten Fingers wird hier etwas Schlottriges nie ganz verdecken können.

Es ist eben nothwendig, daß die gymnastische Bildung der Hand auf Beides eingeht. Engliegende Passagen mit mehr Untertasten verlangen gekrümmte Finger, Obertasten und weitliegende Figuren legen selbst dem strengsten Pedantismus des ersten Prinzips ein Uebergehen auf das zweite auf. Auch die Klangfarbe im Vortrage wirkt bestimmend. Harte, großartige Tonmassen verbieten den Anschlag mit langem Finger, weich hinfließende modern romantische Ausdrucksstellen werden ihn sehr gut anwenden können. Vor allem muß man aber den Charakter unserer heutigen Instrumente mit in Rechnung bringen, und den Theorien eines Bach und Hummel keine zu große Bedeutung einräumen. Der englische Mechanismus ist hinsichtlich der Druckkraft ebenso als hinsichtlich der Schwingung einer größeren Lebendigkeit des Fingers bedürftig wie der Wiener [Mechanismus], welcher das sogenannte Herumkrabbeln mit krummen Fingern vertragen konnte.

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