Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 13

[Seite 1 von 5]

zurück | weiter

Dreizehntes Kapitel. Vom Rhythmus im Allgemeinen und der Kunst des Takthaltens.

<265> Das Bild, welches aus einer deutlichen und gewissenhaften Ausführung der auf dem Notenblatte vorhandenen Zeichen entsteht, ist noch ungeformtes Material. Die Mechanik allein vermag keineswegs die Formen in einem einigermaßen ihrem Verstande entsprechenden Umrisse wiederzugeben, wenn sie nicht von einer wesentlichen geistigen Eigenschaft geleitet wird. Dieses wesentlich Hinzukommende, worauf im ersten Abschnitte nur andeutungsweise eingegangen werden konnte, ist der Rhythmus. Die bloße Deutlichkeit der Klanggebung stellt zwar ein in seinem inneren Kerne gediegenes Material hin, aber dasselbe entbehrt aller Form, und vermag in diesem Zustande noch kein Kunstwerk zu veranschaulichen. Was von Anfang an Voraussetzung bleiben mußte, mag jetzt in eingehenderer Besprechung nachgeholt werden.

Rhythmische Schönheit beruht auf der Idee der Ordnung, des Gesetzes, der Einheit in der Vielheit. Zwei Künste sind es, die vorzugsweise den Rhythmus zu ihrem innersten Lebenskern haben, <266> die Architektur und die Musik; erstere entfaltet ihn in gleichzeitig sich darbietenden Proportionen, letztere in der Aufeinanderfolge der Töne. Fest einchrystallisirt und starr ausgeprägt ist der tektonische Rhythmus einer seelischen Bedeutung kaum fähig, während der musikalische zu einer Symbolik des Gefühlslebens um so geeigneter ist, als dieses selbst grade im Flusse der Zeit existirt. Zudem vermag die Baukunst den Rhythmus bei weitem nicht in solcher Feinheit zu gliedern, wie die Musik. Die äußere Größe läßt das Kunstwerk nur aus der Ferne genießen, denn eine Betrachtung aus der Nähe gestattet keinen Totaleindruck; daraus folgt, daß eine Subtilität der Maaßverhältnisse, welche sich der Feinheit musikalischer Proportionen zu nähern strebte, ihre Wirkung verfehlen würde. Das musikalische Gefühl dagegen erlaubt eine Theilung der Zeitlängen bis an die Grenze sinnlicher Wahrnehmbarkeit. Eine nähere Auseinandersetzung hierüber enthält des Verfassers Schrift über "das musikalisch Schöne" [1858], Kap. 3.

Das Klavier ist das Instrument, welches unter allen den musikalischen Rhythmus am reichhaltigsten darstellt. Selbst die Orgel, so machtvoll und orchestral ihre gewaltigen Organe im Schwunge der wunderbarsten Polyphonie die Rhythmik ausprägen, muß hierin dem Klavier nachstehen, da ihr ernster Charakter die Feingliedrigkeit und Rapidität [Schnelligkeit] der Brillanz nicht zuläßt. Das Klavier umfaßt die Rhythmik der Orgelliteratur mit in seinem Gebiete, weist aber außerdem die Volubilität in eigener charakteristischer Vollendung auf. Auch vom Orchester ist es unterschieden durch den Umfang und die Ausdauer des kleingegliederten rhythmischen Passagenelementes. Jenes vermag das Element der volubilen Schnelligkeit, wegen der vielen Stimmen gebührenden Rücksicht, nicht in dem Umfange aufzunehmen wie das Pianoforte. In Coloratur, Glanz und Farbenpracht steht das letztere einzig da, und giebt dem Rhythmus in <267> allen Formen, besonders aber in den weit ausgeworfenen Strecken einfacherer Tonfolgen, die höchste Ausbildung.

Der Klavierspieler soll der Aufgabe, diese Arten der rhythmischen Entfaltung in allen Verhältnissen auf das Bestimmteste darzustellen, gewachsen sein; kann auch kein Tonkünstler des taktischen Elementes in ganzer Vollkommenheit entbehren, so ist der Pianist doch berufen, vor allen der feinste Rhythmiker zu sein. Schon die Aufgabe, etwas Ganzes zu geben, oder dasselbe in den vielseitigsten Verhältnissen zu Gesang und anderen Instrumenten in der Bedeutung des Leitenden, Stamm und Disposition Angebenden zu behaupten, deuten darauf hin. Die Bildung des Klavierschülers stellt von Anfang an den Rhythmus unabweislich unter die ersten Anforderungen, wie dies schon im Zusammenspiel beider Hände begründet ist. Diese rhythmische Grundlage ist Bedingung jeder weiteren Entwicklung, und zieht sich durch den ganzen Lebenslauf des Spielers. Die sogenannte Ausdrucksfreiheit ist nur da wahrhaft wirksam, wo die feste Taktgrundlage durchschimmert; überdem wird von jener, selbst unter den Händen größter Meister, nur ein mäßiger Gebrauch gemacht; und ist dieselbe beim Schüler völlig zu unterdrücken, so lange das reguläre Taktgefühl unsicher ist.

* * *

zurück | weiter
nach oben