Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 14

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Im gewöhnlichen Sprachgebrauche werden die mit dem eben besprochenen Accente zu versehenden Theile im Takte: gute, die accentlosen: schlechte Takttheile genannt. Der ursprüngliche und natürliche Gedanke nämlich bestimmt denjenigen Noten, die den Anfang, die Mitte oder einen Haupttheil des Taktes bezeichnen, das größere Gewicht und in Folge dessen den Accent; dies sind die guten Takttheile. Sie haben die Bedeutung eines Kernes oder eines Ansatzpunktes, an welchem sich das Schwächere als Ausläufer derselben Idee anreiht. Ein Ding ist ja an sich nichts, es bedarf des Gegensatzes anderer, um seine Eigenschaften klar zu machen. - Es <285> kann nun aber der Fall eintreten, daß sich die Accentordnung umkehrt, und daß die schlechten Takttheile betont, die guten unbetont sind. Diese Art der Accentuation könnte man negativ nennen, im Gegensatz zu der vorigen positiven. Hier haben die vorangegangenen Theile ihre Beziehung auf das Folgende, die Accente haben eine rückwärts gerichtete Geltung; sie sind auch Kern und Ansatzpunkt, aber nicht für etwas darauf Folgendes, sondern Vorangehendes.

Aesthetisch ist diese Art der Accentuation wohl begründet. Nicht das in idealer Unveränderlichkeit Normale und Reguläre ist Geist der Lebendigkeit. Gerade das Auseinandertreten der Norm in der Zersplitterung des Individuellen, in das directe Gegentheil, bezeichnet die letztere. Das Abnorme ist das wahre Leben. Weder Consonanz, noch geometrisches Ideal, noch der in geradliniger Fronte seine Proportionalität zeigende ruhende Menschenkörper sind die eigentliche Schönheit; sie enthalten nur den Keim. Alle die Begriffe müssen in die Dissonanz der verschlungenen Formengebilde, und letztere namentlich in die Mannigfaltigkeit der bewegten Gesten auseinander treten. Das Durchleuchten der Einheit inmitten der Mannigfaltigkeit ist um so wirksamer, je mehr diese selbst ihren Inhalt zeigt.

So wird denn auch der normale Rhythmus zerrissen, in Konflikte und Unregelmäßigkeiten geführt, sein consonirendes Verhältniß in Dissonanz. Dies ist der Sinn des irregulären oder negativen Accentes.

Das Prinzip der Abwechslung und Mannigfaltigkeit ist so weit reichend, daß fast keine Komposition ohne solche irreguläre oder negative Accente existirt. Der einfache Galopp, der oben als Beispiel angeführt wurde, schloß im sechzehnten Takte mit einem solchen. Und es ist für die praktische Ausführung sogar die Regel aufzustellen, daß der Nachdruck stärker auf die negativen, als auf die positiven metrischen Accente zu legen ist. Die letzteren markiren sich oft von selbst dem Gefühle durch die natürliche Stelle, die sie im <286> Takte einnehmen. Einmal eingeleitet durch ein- oder zweimaliges Betonen einiger Takte, fließen sie dem Bewußtsein von selbst in diesem Sinne fort, auch ohne besondere Hervorhebung. - Die negativen Accente aber, als das dem Gefühle zunächst nicht von selbst Verständliche, bedürfen doppelter Betonung.

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