Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 14

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Nach den bisher besprochenen Accenten muß die Lehre zu derjenigen Gattung der Betonungen gelangen, welche im Allgemeinen dem sogenannten höheren Vortrage überwiesen werden. Einen Namen für dieselben festzustellen, hat seine Schwierigkeit, da weder der früher gebrauchte "declamatorische", noch die von anderen Theoretikern vorgeschlagenen präcis dem hier vorliegenden Begriffe entsprechen. Johanna Kinkel (Briefe über Klavierunterricht [Stuttgart 1852]) will grammatische und oratorische Accente unterscheiden. Diese Benennung paßt deßhalb nicht, weil das Ende des Grammatischen keineswegs da eintritt, wo das Oratorische seinen Anfang nimmt, und dieses durchaus nicht etwas von dem Grammatischen Unabhängiges ist. Köhler (S. 144) stellt grammatische und ästhetische Accente einander gegenüber. Jene sollen dem Takte eingeboren, beständig bleibend, rein gesetzlich sein; diese würden frei aus der Phantasie producirt und wären im Schönheitsgefühle begründet. - Aber auch diese Anschauung läßt sich nicht rechtfertigen. Aesthetisch ist der rein metrische oder grammatische Accent gewiß nicht minder als der andere; ja er liegt auch in der Phantasie. Auch kann man schwerlich leugnen, daß der höhere, sogenannte ästhetische, ebenfalls in unwandelbaren Gesetzen der Natur beruht, wofern man die Regeln des Sprachlautes und des menschlichen Ausdrucks nicht von derselben trennen will.

Von einer strengen Präcision der Namen möge also hier abgesehen <294> werden. Es kommt der Lehre auf die Darstellung der sachlichen Verhältnisse dringender an; möge man die zweite Art den höheren, den oratorischen oder declamatorischen Accent nennen, das Verhältniß desselben zum ersten, bisher besprochenen ist kein anderes, als das beim Uebergange der Technik in den Vortrag angegebene. Der Uebertritt des ersteren in den zweiten ist so unmerklich, daß die Grenze nicht wahrgenommen wird, Der metrische Accent ist der elementare und giebt die erste Grundlage an, wie früher die Technik, der andere umfaßt ein größeres Gebiet, trägt aber jenen nicht nur als stillschweigende Voraussetzung in sich, sondern muß einen Theil seiner Idee geradezu in ihm ausschließlich sich verwirklichen lassen.

Der erste Accent brachte vom Tonstücke die sinnliche Grundlage zur Anschauung, der zweite soll den Totalcharakter desselben darstellen helfen. Da der letztere aber großentheils die reine Sinnlichkeit des Tonmaterials in ihren specifischen Eigenschaften wirken lassen muß, und keineswegs reichhaltig in den Inhaltsmomenten ist, die eine klare objektive Auslegung durch sprachliche Begriffe gestatten, so gehört der erste Accent, so elementar er auch sein mag, schon wesentlich mit in die Vortrags- oder declamatorischen (u. dgl.) Accente; genau dasselbe Verhältniß wie zwischen Technik und Vortrag.

Eine noch andere Eintheilung konnte den Accent der Cantilene dem der Passagen gegenüberstellen, und zwei einander in dieser Weise schärfer gesonderte Arten annehmen. Sie konnte den metrischen Accent mehr dem volubilen, flüssigen, den anderen dem singenden, getragenen Elemente zuweisen. Eine solche Unterscheidung ist aber unzureichend. Denn auch für die Passagen genügt im Sinne des höheren Vortrags noch nicht der metrische Accent allein, und die Darstellung der Cantilenen kann sich keineswegs ohne den letzteren behelfen.

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