Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 15

[Seite 7 von 8]

zurück | weiter

6. Die bisherige Anschauung bedarf jetzt einer Erweiterung. - Der Begriff der Steigerung fordert zwar ursprünglich eine unmittelbar in die Sinne fallende Zunahme der Kräfte; dies ist aber eben nur eine für die erste Anschauung bestehende Annahme. Jede Entwickelung einer Idee ist Steigerung. Diese bei weiterem Denken sich ergebende Wahrheit modifizirt die ursprüngliche Anschauung, von der hier ausgegangen wurde, so, daß das Decrescendo ebenso gut in den Begriff der Steigerung aufgenommen werden kann, als sein Gegentheil, indem es ja auch nothwendiger Durchgangspunkt in der Entwicklung ist. - Dieser Umstand erklärt einige Ausnahmefälle von den bisherigen Regeln, die behufs eines feiner ausgebildeten Vortrag von häufiger Anwendung sind.

Es ereignet sich nämlich nicht selten, daß aufsteigende Bewegungen decrescendo, absteigende Crescendo vorgetragen werden müssen.

<329> Dieser Fall erklärt sich, wenn man will, recht gut aus dem Stärkeverhältniß der Töne, das, wenn die Bewegung in höhere Regionen steigt, ebensowohl eine Abnahme als Zunahme bezeichnen kann. Das Höhere, Weiblichere, Zartere ist ja auch das Schwächere; das Tiefere, Männlichere, Dämonische ist das Stärkere. Es kommt also entweder auf den Totalgeist der Komposition, oder bei einer mehrdeutigen Auffassung derselben auf die Subjectivität des Spielers an, um die Phantasie in die eine oder andere Richtung hinüber zu leiten. Der Geist des Ganzen oder das Prinzip der Abwechslung haben über die Zulässigkeit solcher Auffassungen zu entscheiden. - Wir unterscheiden zwei Hauptfälle:

a) Wo ein Abschnitt zu Ende geht, der sich in stürmischem Drängen und Treiben bewegt und eine Abschwächung verlangt, wird selbst die entschiedenste Höhenbewegung seines Schlusses ein Decrescendo erfordern. Ein treffendes Beispiel giebt das Ende des Durchführungstheiles der Beethovenschen B-dur-Sonate Op. 22 im ersten Satz:

[Notenbeispiel S. 329, Nr. 1: Beethoven, Klaviersonate op. 22 - 1. Satz]

Für ein abwärts gehendes Crescendo giebt Beethovens C-moll-Sonate Op. 10 im DurchführungsteiI des ersten Satzes ein Beispiel, wo die linke Hand mit folgenden Noten eintritt.

[Notenbeispiel S. 329, Nr. 2: Beethoven, Klaviersonate op. 10,1 - 1. Satz]

Es muß hier bemerkt werden, daß von keinem Theile einer Komposition, oder von der ganzen überhaupt das Ende gleichmäßig oder gleichgültig aufzufassen ist. Eine Spannung besteht immer, und drückt sich entweder im Crescendo oder Decrescendo aus.

zurück | weiter
nach oben