Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 18

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Achtzehntes Kapitel. Fingerzeige über allgemeine Auffassung.

Tief in der menschlichen Seele wohnt ein Zug der Nichtbefriedigung durch das Leben, der Sehnsucht nach Auflösung seiner Dissonanzen. Was die Wirklichkeit versagt, müht sich die Phantasie zu ersetzen, und so baut sie sich zwei Welten auf, die jenem Zuge der Sehnsucht entsprechen, die Religion und die Kunst. In der Religion bildet sich eine Reihe metaphysischer Anschauungen, welche mit dem Leben aussöhnen, indem sie über dasselbe hinausführen und der zeitlichen Unvollkommenheit eine ewige Vollkommenheit versprechen. In der Kunst dagegen bemächtigt sich die Phantasie der Wirklichkeit, um sie eben jenem seelischen Drange gemäß umzuformen, d.h. zu idealisiren. Sie drückt den Stempel der Idealität auf die kleinste sinnliche Existenz, auf Klang, Farbe, Form, auf Blume, Thier; sie drückt ihn auf die ganze Mannigfaltigkeit der Beziehungen unter Dingen und lebenden Wesen; ja, sie hebt sich auf unendlicher Stufenleiter so weit empor, um im Sinne des religiösen und metaphysischen Bedürfnisses zu wirken, indem sie theils an das Dogma, theils an die innersten Tiefen des eigenen Selbst anknüpft.

An die äußere Objectivität lehnt sich, die Architektur ausgenommen, die Musik verhältnißmäßig am wenigsten an. Ihr Hauptmaterial bleibt das Gemüthsleben. Die Natur des Tones weist sie darauf hin; denn die wechselnden Beziehungen von Höhe, Stärke, Klang ermöglichen eine Symbolik der Gefühlsprocesse. Dieser Urreiz <380> durchdringt die ganze Tonwelt in solcher Ausdehnung, daß die oben behandelte Vortragslehre in ihren Grundzügen wesentlich auf ihm beruht.

Seine volle Geistigkeit jedoch hat das musikalische Kunstwerk damit noch nicht erlangt. Was zu diesem Reiz noch hinzukommen muß, ist ein dreifacher Inhalt:

  1. 1. ein formeller;
  2. 2. ein pittoresker;
  3. 3. ein poetischer.

Der erste, der formelle, zeigt die innerhalb der specifisch-musikalischen Combinationsfähigkeiten mögliche Idealität der Struktur äußerlicher Gebilde, in denen Ordnung, Einheit in der Mannigfaltigkeit, eine Regel in den sinnlichen Beziehungen vorherrscht. Die Musik, die sich hier ergiebt, wird, da die Idee der Form als eine auf nicht zu viele Unterschiede beschränkte hervortritt, besonders den Reiz der Klangwirkungen, die Kunst, Spannungen sinnlicher Art anzuregen und zu lösen, das Material der sogenannten Effekte ausbeuten. Hierin liegt eine große Mannigfaltigkeit und dieser Stoff wird in die Form gefüllt. Es entsteht ein Schönes - von sinnlich reizender und formeller Natur. - In der zweiten Art wird der Reiz auf Nachbildungen, auf Anklänge aus den Erscheinungen des Lebens beschränkt. Dem Tone wird seine pittoreske Kraft abgelauscht und ihm dadurch ein Inhalt anderer Art verliehen. Das Kunstwerk wird von malerischer Bedeutung; Naturscenen und Laute, Bewegungen und Thätigkeiten lebender Wesen werden in seinen Inhalt aufgenommen. Es ergiebt sich, daß der Ton seine malerische Kraft auf einen großen Theil der hörbaren und selbst sichtbaren Erscheinungen der Welt auszudehnen vermag. (Vergl. das fünfte Kapitel in des Verfassers Schrift: "Das musikalische Schöne".)

Der letzte Theil des angeführten Inhalts, als der umfassendste und höchste, wird natürlich die intensivste Aufmerksamkeit des Künstlers auf sich lenken müssen und ist besonders auf die dem Gefühle dunkel vorschwebende Auslegung schöner Tonwerke hinzuweisen. Hier <381> fehlt in dem Bereiche der musikalischen Aesthetik allerdings noch die objective Forschung. Die musikalische Schönrednerei, die dichterisch geschmückte Phrase hat in unsäglicher Wohlfeilheit überhand genommen; den Kunstwerken werden objektive Beziehungen und inhaltliche Specialitäten untergelegt, als ob es die höchste Aufgabe der Tonkunst sei, das ihren Mitteln schlechterdings Versagte mit Gewalt sich anzueignen. Ja, es liegt eine Inhaltlichkeit in den Tönen, aber sie ist allgemeinerer Art, und die Auslegung darf in diesem Punkte nie zuweit da eingehen. -

Die inhaltvollste, den Menschen am ernstesten und mächtigsten ergreifende Poesie liegt in der Religion und Metaphysik. Der Geist geht mit der Fülle seines gesammten Inhaltes in die Träumerei des Absoluten über, jenes ihn so erhebenden und durch den Gedanken der höchsten Vollkommenheit vollendetsten Schönen. - Sobald diese Poesie aus der abstracten Form, inder sie noch keine Kunst ist, heraustritt und zum sinnlichen Mittel greift, um sich in concreter Erscheinungauszudrücken, also sich in den Künsten offenbart, vermag unter diesen keine jenen hochbegeisternde und mächtigen Traum so vollkommen auszumalen, als die Musik.

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