Mattheson: Der vollkommene Capellmeister

Teil 1, Kap. 10 [Seite 16 von 20]

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Der melismatische Stil

§. 99. Noch eine besondere Schreib=Art gehöret nicht nur gewisser maassen in die Kirche wie oben bey Erklärung des gebundenen Styls berühret worden, in dessen Stelle er getreten ist, sondern vornehmlich, doch auf mäßigere Weise, d.i. in geringerm Gebrauch, zum Theatro: nehmlich der melismatische Styl, welcher dort alle ernsthaffte, gemeine Choral=Gesänge mit Haufen, hier aber alle lustige Lieder und solche schertzende, wenige Arietten begreifft, die verschiedene auf einerley Melodie zu singende Gesetze, Strophen oder Abschnitte haben.

§. 100. Die Welschen halten ihre Schau= und Sing=Spiele für viel zu vornehm, daß sie dergleichen Canzonetti oder Oden dahinein bringen sollten; es mögte denn bisweilen in Venedig ein und anders melismatisches, den dasigen Boots=Leuten zu Gefallen, mit unterlauffen. Wiewol auch die Intramezzi oder Zwischen=Spiele bey den Italienern den Abgang dieses melismatischen Wesens in der Haupt=Handlung, an vielen Orten, absonderlich zu Wien, so reichlich ersetzen, daß man es schwerlich niederträchtiger und Gassenmäßiger erdencken kan. Die Frantzosen und Engländer haben es zwar gerne, daß diese Schreib=Art sich bisweilen in Absingung ihrer häuffigen weltlichen Lieder hören lasse; aber von abgeschmackten Hanreis= und Pickel=Possen halten sie nichts. Es wäre gut, wenn man diese Bescheidenheit auch von den Teutschen zu rühmen hätte: wozu die in Halle 1737 auf das sauberste herausgekommene Sammlung verschiedener und auserlesener Oden schon einen guten Anfang gemacht hat.

§. 101. Wenn z.E. in einer Oper ein Hauffen Scheerenschleiffer eingeführet werden, die unter andern, folgendes Melisma zum besten geben:

[Notenbeispiel S. 90]

so kan solches wenig Erbauung bringen. Ariadne, worin dieses Exempel befindlich, ist zwar ein ziemlich=altes Singspiel; hat aber grossen Beifall gefunden, ist Ao. 1722 wieder verjünget worden: und, wenn die neuern Proben nicht verhaßt wären, könnte man ihrer auch einige beibringen. Doch genug hievon!

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