Mattheson: Der vollkommene Capellmeister

Teil 2, Kap. 13 [Seite 3 von 41]

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Choral

§. 3. Die Wege der Natur führen von der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit. Wir wollen in ihre Fußstapffen treten, welches uns niemand in Lehrsachen verdencken kan, und von dem leichtesten Gesange, von der bekanntesten Melodien=Gattung den Anfang machen. Ist demnach die vornehmste, obwol einfältigste Art aller Sing=Stücke:

I. Der Choral, cantus choralis planus, gregorianus &. demselben rechnet man zu

§. 4. Wie es vor Alters damit zugegangen, nehmlich mit dem Choral=Gesange überhaupt, da weder Tact noch Geltung der Noten, sondern nur ein gewisser kleiner Sprengel der Klänge dabey gebraucht worden, einfolglich lauter unvollkommenes Wesen entstanden, solches gehöret in die Geschichte der Music. Heutiges Tages sind unsre Choräle mehrentheils rechte und schlechte Oden oder Lieder, mit verschiedenen Gesetzen oder Strophen, und richten in dem, was die Melodien betrifft, ihre Absicht weiter auf nichts, als auf eine gewisse gezwungene Ton=Art, ohne sonderbare Betrachtung der Einschnitte oder andrer musicalischen Umständen, und auf die Leichtigkeit.

§. 5. Die Schönheit aber, so sich dem ungeachtet bey etlichen unserer Choral=Melodien auf eine Hertzrührende Weise hervorthut, übersteiget auch die grösseste Kunst, und wäre allein zureichend, unsre so offt entdeckte vortheilhaffte Meinung von der edlen Einfalt zu bestärcken. Die Hymni, welche lauter Lobsprüche und grosse Thaten Gottes begreiffen, die Cantica &. waren Anfangs, bey ihrer Einführung in die Kirche, nur zum blossen Singen, so wie die Altars=Recitative und Wechsel=Gesänge zwischen dem Priester und dem Chor noch sind, angeordnet. Heut zu Tage erstrecken sich die erstern etwas weiter; die Psalmen brauchten aber Instrumente.

§. 6. Nach und nach sind die Oden, wenn wir sie als eine Melodien=Gattung betrachten, so geistlichen als weltlichen Inhalts, durch die sogenannte Arien fast einigermaassen aus der Music vertrieben worden: und zwar nicht unbillig, weil die verschiedenen Lieder=Gesetze auch verschiedene Vorträge darlegen, und dannenhero schwerlich, mit Beibehaltung der Vernunfft, auf einerley Melodie, zumahl in der madrigalischen Schreib=Art, gesungen werden können.

§. 7. Denn, was kan wol ungereimter seyn, als wenn in der einen Strophe das Wort versiegt ein klägliches Gezerre von 7 oder 8 Noten bekömmt; welches hernach in der andern Strophe auf das Wort beschleunigt fällt: oder wenn eben der Lauf von 4 Täcten, welchen die Wasserwogen herbeilocken, weiter hin auf das Wörtlein plötzlich herhalten muß? Und unzehlige mehr dergleichen. Es würde, meines Erachtens, kein Capellmeister solche kindische Fehler begehen, wenn er wüste, was der melismatische Styl wäre, zu dem die Oden gehören; und nicht zur madrigalischen Schreib=Art.

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