Mattheson: Der vollkommene Capellmeister

Teil 2, Kap. 13 [Seite 4 von 41]

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Aria

§. 8. Das Geschlecht der Arien ist sehr groß und weit ausbreitend: ja, es beziehet sich bey heutiger Setz=Kunst fast alles darauf, und also betrachten wir

<212> Die II. Aria, zum Singen, wohin vornehmlich gehören

§. 9. Das Wort Aria kömmt Zweifels frey von der Lufft her, nicht nur, weil aller Klang sein Fuhrwerck darin antrifft; sondern auch, weil eine schöne Melodie mit nichts angenehmers, als mit einer süssen, frischen Lufft zu vergleichen ist, und eben solche Erquickung, wo nicht eine grössere mit sich führet. Salmasii wortforschende Meinung, als ob Aria von aera herkomme, scheinet zuweit geholet zu seyn: zumahl da es nur eine Zahl bedeuten soll. Aera kommt von aes, Metall, her; und das läst sich noch eher auf was klingendes deuten, als der Werth einer Müntze. Doch iedem hierin seine Meinung.

§. 10. Es ist sonst die Arie, damit wir sie ordentlich beschreiben, ein woleingerichteter Gesang, der seine gewisse Ton=Art und Zeitmaasse hat, sich gemeiniglich in zween Theile scheidet, und in einem kurtzen Begriff eine grosse Gemüths=Bewegung ausdruckt. Bisweilen wird mit Wiederholung des ersten Theils, bisweilen auch ohne dieselbe geschlossen. Im ersten Fall heißt es Da capo, d.i. von vorn, oder eigentlich vom Kopffe, welches schon ein alter davidischer Gebrauch ist, welches unter andern der achte Psalm' bezeuget.

§. 11. Das Arioso hat nur mit der Aria ein gleiches mouvement, oder einerley Bewegungs=Art; sonst aber weder dieselben Schrancken oder Theile, noch dieselbe Absicht: denn es kan eine blosse Erzehlung, oder sonst ein nachdencklicher lehrreicher Spruch, ohne sonderbare ausdrückliche Gemüths=Bewegung, darin enthalten und verfasset werden. Ich trenne hiemit die Gemüths=Bewegung gar nicht von der Erzehlung, oder von dem nachdencklichen Spruch. Eine gute Erzehlung, eine wichtige Lehre kan so wenig ohne Leidenschafft des Zuhörers, als des Vortragenden seyn. Ich will nur so viel sagen, daß gemeiniglich der Ausdruck bey solchen Dingen nicht so starck und rührend ist, als bey andern, die ihre eigentliche Absicht darauf richten. Ein Redner muß sich höher schwingen, als ein Geschichtschreiber. Dieser kan durch die derbe Vorstellung der Wahrheit und Sache; jener durch den Schmuck seiner ausgesuchten Worte bewegen.

§. 12. Man nennet das Arioso auch wol deswegen Obligato oder gebunden, weil es sich vom Recitativ und dessen Affecten nur darin unterscheidet, daß es nach dem Tact gesungen seyn will.

§. 13. Arietta ist das Verkleinerungs=Wort von Aria, und hat alle Eigenschafften ihres Stammes; nur die Länge und Ausführlichkeit nicht. Offtmahls leidet eine Ariette auch solche WiederholungsTheile, als die Tantz=Melodien, und ist übrigens so eingerichtet, daß sie leicht zu fassen stehet. Graupner hat sich ehmahls sonderlich in Arietten hervorgethan.

§. 14. Mit einem Wort, alle gute kurtzgefaste Melodien sind, in gewissem Verstande, Arien oder Arietten, und dieser Nahme mag iedem geschickten Kinde beigeleget werden; Doch behalten ihn diejenigen, so vor andern an Gestalt, Wachsthum und zierlicher Grösse wolgerathen sind, gleichsam Vorzugs=Weise zu eigen.

§. 15. Es gibt offt bey den Dichtern solche Sätze, die wegen der vielen Gedancken und dazu erforderlichen Menge der Worte, die Gräntzen einer gewöhnlichen Arie weit überschreiten, und da ist mancher unter ihnen, aus Abgang musicalischer Wissenschafft, augenscheinlich verlegen, wohin er solche starcke Sätze rechnen, oder wie er dieselbe benennen soll. Bald schreiben sie darüber Arioso; bald Affettuoso; bald, und zwar am allerübelsten: Aria, wie ich davon sehr viele Exempel, wenns nöthig wäre, anführen könnte. Bey so gestalten Sachen stehet denn des Componisten Verstand offt still, und er weiß eigentlich nicht, was er daraus machen soll.

§. 16. Ein Satz von zwölf Zeilen, der noch dazu die sechs ersten von vorn an wiederholet, und <213> also achtzehn ausmacht, obgleich mit grossen Buchstaben Aria darüber stehetl dünckt dem melodischen Setzer etwas seltsames zu seyn. Ein andrer Satz von eben der Länge mit der Uiberschrifft: Arioso, scheinet ein mehres zu begreiffen, als der Titel verspricht, welches sonst in Büchern nicht schlimm ist. Ein dritter Satz von 15 Zeilen, mit dem Worte: Affettuoso, versehen, beschreibet die Beschaffenheit der Sache vor der Sache selbst. Wie ist da heraus zu kommen? Also:

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