Quantz: Anweisung - Kap. 18

[Seite 19 von 31]

zurück | weiter

§. 67. In der Composition verfahren die Franzosen sehr gewissenhaft. In ihren Kirchenmusiken findet man zwar mehr Bescheidenheit, aber auch mehr Trockenheit, als in den italiänischen. Sie lieben die natürlichen Gänge mehr, als die chromatischen. In der Melodie sind sie treuherziger als die Italiäner, denn man kann die Folge der Gedanken fast immer errathen: an Erfindungen aber sind sie nicht so reich als jene. Sie sehen mehr auf den Ausdruck der Wörter, als auf einen reizenden oder schmeichelnden Gesang. So wie die Italiäner die Schönheit der Composition, größten Theils, nur in der Hauptstimme anzubringen suchen, wodurch zwar die Grundstimme dann und wann verabsäumet wird: so legen hingegen die Franzosen meistentheils mehr Schimmer in die Grundstimme, als in die Hauptstimme. Ihr Accompagnement ist mehr simpel, als erhaben. Ihr Recitativ singt zu viel, die Arien hingegen zu wenig: weswegen man in einer Oper nicht allemal errathen kann, ob man ein Recitativ oder ein Arioso höre [Anmerkung]. Wofern auf ein französisches Recitativ eine zärtliche Arie folget, wird man ganz und gar eingeschläfert, und verlieret alle Aufmerksamkeit: da doch der Entzweck einer Oper <317> erfordert, daß die Zuhörer beständig mit einer angenehmen Abwechselung unterhalten, und immer aus einer Leidenschaft in die andere versetzet, ja daß die Leidenschaften selbst bisweilen auf einen gewissen Grad der Stärke getrieben werden, und wieder abnehmen sollen. Dieses kann aber der Dichter, ohne Beyhülfe des Componisten, nicht allein bewerkstelligen. Doch was den französischen Opern, wegen des geringen Unterschieds, der sich zwischen Arien und Recitativen findet, an der Lebhaftigkeit abgeht, das ersetzen die Chöre und Tänze. Wenn man den ganzen Zusammenhang einer französischen Oper genau betrachtet, so sollte man fast glauben, als wenn die allzuähnliche Vermischung der Arien und Recitative mit Fleiß so eingerichtet würde, um die Chöre und Ballette desto mehr zu erheben. Ungeachtet nun diese, sowohl als die Auszierungen des Schauplatzes, nur als ein Nebenwerk einer Oper anzusehen sind, wie denn absonderlich die Chöre in den italiänischen Opern wenig geachtet werden: so sind sie nichts desto weniger fast die größte Zierde der französischen Singspiele. Es ist unstreitig, daß die Musik der Franzosen, sich, zu dem in seiner Vollkommenheit betrachteten Tanzen, viel besser schicket, als keine andere: da hingegen die italiänische zum Singen und Spielen eine bessere Wirkung thut, als zum Tanzen. Doch ist auch nicht ganz zu läugnen, daß man in der französischen Instrumentalmusik, vornehmlich aber in ihren charakterisireten Stücken, wegen des an einander hangenden und concertirenden Gesanges, viele gefällige und annehmliche Gedanken antrifft, die sich, im italiänischen Geschmacke, mit prächtigen und erhabenen Gängen sehr wohl vermischen lassen.

zurück | weiter