Riemann: Klavierschule op. 39,1

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III. Aesthetisches.

§ 10. Stil.

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<34> Dass die Zeichen der Notenschrift bei weitem nicht genügen, um alle Details des Vortrages genau zu bestimmen, macht sich oft genug fühlbar. Wenn wir trotzdem nicht wünschen können, deren Zahl noch erheblich zu vermehren, so ist dafür der Grund massgebend, dass jedes neue Zeichen den Apparat mehr belastet, die Erlernung erschwert. Nur Zeichen von direkter Anschaulichkeit werden stets ohne Zwang und ohne Widerstand aufgenommen werden. So könnte man z.B. wünschen, für die verschiedenen Nüancen des Anschlages Zeichen zu haben. Jetzt behelfen wir uns mit dem Legatobogen für strenges Legato, mit dem Staccatopunkt für strenges Staccato und mit der Kombination beider Bezeichnungen oder kleinen Strichen über den Noten, auch wohl Strichen und Punkten für die mittlere Anschlagsart Non legato. Wie gross der Spielraum besonders für das Staccato bleibt, ist aus § 5 ersichtlich und man hat daher versucht, die Punkte für das leichtere, Schmitze [Keile] dagegen für das schärfere Staccato zu bestimmen, ohne dass es jedoch zu einer konsequenten Durchführung dieser guten Idee gekommen wäre. Der Componist kann sich für längere Stellen durch Wortbezeichnung behelfen: mezzolegato, leggiero, gettato (geschleudert = wirkliches Staccato), martellato (gehämmert, mit Armkraft) usw. Für wenige Noten ist das indess schon, ziemlich umständlich und bleibt die Wahl der einen oder anderen Anschlagsweise, wenn nur die allgemeine Kategorie festgestellt ist, besser dem Geschmack des Ausführenden überlassen. Vorausgesetzt muss aber werden, dass derselbe die Nüancen beherrscht und gesondert studirt hat.

Den Geschmack kann man nicht durch wenige Bemerkungen bilden; wohl aber kann man durch solche auf allgemeine Gesichtspunkte aufmerksam machen, welche vor argen Missgriffen schützen. <35> Vor allem ist seitens des Lehrers immer darauf hinzuweisen, dass man ein Adagio nicht vorträgt wie ein Scherzo oder Rondo. Man spricht wohl von einem Cantabile-Vortrag, Rondovortrag und brillanten Vortrag und kennzeichnet in der That ungefähr die Hauptgattungen des Vortrags zugleich unter nicht unzweckmässiger Anlehnung an die Namen bekannter Formen. Bei näherer Betrachtung erweisen sich aber doch diese Bestimmungen als nicht ausreichend und nicht allgemein genug gefasst. Denn welche innere Beziehung besteht z.B. zwischen dem Vortrag der Einleitung von Mendelssohns Rondo capriccioso und dem Rondovortrag? Höchstens die des Contrastes.

Nicht Form und Name eines Musikstückes sind massgebend für den Vortrag, sondern der Stil, in welchem es geschrieben ist, das Ethos, welches dasselbe im Ganzen oder in seinen Theilen (!) beherrscht. [FN] C.F. Weitzmann unterscheidet in seiner kurzen "Geschichte des Klavierspiels und der Klavierlitteratur" (2. Aufl. 1879) den lyrischen, dramatischen, brillanten und romantischen Klaviersatz. Diese Ausdrücke sind nicht ohne Glück gewählt, wenn wir z.B. beim lyrischen Stil an Mozart, beim dramatischen an Beethoven, beim brillanten an Weber und beim romantischen an Schumann denken; in der That begreifen diese Kategorien bei Weitzmann Epochen, zum mindesten ganze Künstlerindividualitäten. Wir brauchen aber mehr, wir haben Begriffe nöthig für die einzelnen Bruchstücke der Werke eines Meisters. Nicht alles ist lyrisch, was Mozart, nicht alles dramatisch, was Beethoven, <36> nicht alles brillant, was Weber, nicht alles romantisch, was Schumann geschrieben. Man kann also nicht sagen: Schumann muss so, Mozart so gespielt werden. Wenn auch nicht zu leugnen ist, dass die Werke jedes dieser Meister eine gewisse Familienähnlichkeit aufweisen, so verlangen sie doch einen so mannichfaltig wechselnden Vortrag, dass wir die Begriffe, die wir suchen, auch für die Schöpfungen jedes derselben brauchen. [FN]

Die hier folgende Klassifikation soll weniger in ästhetischer Hinsicht erschöpfend als für die Praxis nutzbar sein, sofern sie Anhalte giebt für die anzuwendenden Anschlagsarten und Freiheiten der Ausdrucks.

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