Riemann: Klavierschule op. 39,1

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Kap. 11 [Seite 5 von 12]

Wenn auftaktig beginnende Anfangsmotive in der Regel helles Licht über den Aufbau der ersten Perioden verbreiten, so können dagegen ernstliche Zweifel eintreten, wo ein volltaktiges Motiv das Tonstück anfängt. Ist es doch ein Widerspruch gegen alles anfangen, werden, entwickeln, wenn gleich das erste Motiv eine Negation des Werdens bedeutet, wenn es in einer metrischen Gestalt auftritt, deren natürliche Dynamik das diminuendo ist. So stellt es sich denn auch heraus, dass nur selten wirklich volltaktige <50> Motive ein Tonstück beginnen, vielmehr wo der erste Takt voll einsetzt, entweder ein Auftakt unterdrückt ist, welcher bei späteren Wiederholungen des Themas regelmässig erscheint, oder aber der Taktanfang (mit der Accentnote) als zugegeben angesehen werden muss, während das eigentliche Thema erst später beginnt. Bekanntlich ist der Musik vor Einführung der Taktstriche (1600) der Auftakt überhaupt fremd und beginnen also die Tonwerke ohne Ausnahme mit dem vollen Takte oder nach älterer Terminologie mit dem vollen Werth ein Brevis oder Longa. Bei Bach und Mozart findet man noch häufig solche vorausgeschickte Schwerpunkte höherer Ordnung, die man nicht verwechseln darf mit Anfängen ohne Auftakt wie z.B. bei Beethoven Op. 49 No. 2, 1. Satz; Op. 2 No. 1, letzter Satz; Op. 10 No. 1, 1. Satz; Op. 13, 1. Satz; Op. 22, 2. Satz; Op. 27, No. 2, letzter Satz; Op. 28, 1. Satz. Der vorausgegebene Schwerpunkt sichert in vielen Fällen das richtige Verständniss der folgenden auftaktigen Form, welche sonst manchmal missgedeutet werden kann. Wem wäre nicht die fehlerhafte Auffassung des Anfangs der Sonate Op. 14, No. 2 von Beethoven bekannt:

Notenbeispiel S. 50, Nr. 1

statt (wie geschrieben steht):

Notenbeispiel S. 50, Nr. 2

Hätte Beethoven auch hier den vollen Takt markiert, etwa so:

Notenbeispiel S. 50, Nr. 3

so würde die fehlerhafte Ausführung kaum vorkommen. Ein solches Markieren des Taktanfangs zur bessern Verständlichung auftaktiger Motive ist etwa dem Vor-Zählen des Lehrers und Schülers vergleichbar:

Eins! Zwei - !

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