Riemann: Klavierschule op. 39,1

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Kap. 12 [Seite 2 von 10]

Ehedem wurden übrigens bei weitem nicht alle Verzierungen vorgeschrieben, welche bei der praktischen Ausführung der Stücke zur Anwendung kamen. Man sehe nur, wie umständlich Ph.E. Bach (Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, 1753) die Kunst, alle Arten von Verzierungen am rechten Orte anzubringen, abhandelt. Es war Sache des Spielers oder Sängers, zu wissen, wie er ein Adagio oder Rondo geschmackvoll auszuzieren hatte. Insbesondere wurde vorausgesetzt, dass etwaige Fermaten zu mehr oder minder ausgeführten Cadenzen benutzt <62> wurden. Auch D.G. Türk giebt in seiner Clavierschule (1789) eine Anzahl solcher Improvisationen, z.B. statt:

Notenbeispiel S. 62, Nr. 1

die folgende Verzierung:

Notenbeispiel S. 62, Nr. 2

und noch ausgeführtere. Er bemerkt dazu (S. 304): "Wer keine willkürliche Verzierungen erfinden kann und doch die Fermaten nicht ganz simpel vortragen will, für den bleibt nichts übrig als etwa ein Triller oder Mordent ... Doch wurde ich rathen, in Tonstücken von, traurigem etc. Charakter die Fermaten lieber gar nicht, als durch einen zweckwidrigen scharfen Triller oder Mordenten zu verzieren." Noch A.E. Müller (Pianoforteschule 1818, S. 286) handelt die willkürlichen Verzierungen ab, gestattet ihre Einführung aber nur dem "der Composition versteht und schon für die Kunst ausgebildet ist." Hier documentirt sich deutlich der sinkende Credit dieser "Verzierungen" der klassischen Compositionen. Hummel (1828) verliert kein Wort mehr über dieselben; er macht sich übrigens die Sache allzu bequem, indem er überhaupt nur die seiner Zeit noch in der Praxis der Componisten üblichen Verzierungen erklärt und bemerkt: "Will jemand auch die früher üblich gewesenen Zeichen wegen des Vortrags der damaligen (!) Compositionen kennen lernen, so findet er in älteren Lehrbüchern hinlängliche Erläuterung." Das ist freilich nicht das rechte für eine dickleibige Clavierschule, wenn auch der Hinweis auf ältere Schulen schon immer etwas, jedenfalls immer mehr ist als das völlige Stillschweigen, mit dem die neuesten Schulen über die alten Verzierungen weggeben. Zum mindesten ist es Pflicht der Clavierschulen, über die Bedeutung der Zeichen [FN], welchen der Schüler in den gangbaren Ausgaben der Klassiker bis zurück zu Bach und Händel begegnet, hinreichenden Aufschluss zu geben.

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