Koch: Musikalisches Lexikon

Liederspiel.

<904> Eine neue Gattung von Schauspiel mit Gesang, die von dem Königl. Preußl. Kapellmeister Herrn Reichardt erfunden worden ist, von welchem auch das erste Schauspiel dieser Gattung, unter dem Titel: Liebe und Treue, im Jahre 1800 zu Berlin aufgeführt wurde.

Ueber den Zweck und über die Einrichtung dieser neuen Gattung des Singspiels drückt sich der Erfinder in einem Aufsatze, welcher in dem 43sten Stücke der allg. musikal. Zeitung vom Jahre 1801, unter dem Titel: Etwas über das Liederspiel, enthalten ist, auf folgende Art aus:

"Mit Bedauern sah ich, wie das deutsche Opernpublikum immer mehr und mehr bloß an halsbrechenden Schwierigkeiten und betäubenden Geräusch Gefallen fand; die angenehmsten Lieder, - die allein Einfluß auf die Gesangbildung des großen Publikums und selbst auf dessen frohen Lebensgenuß haben können - sah ich oft unbeachtet vorüber <905> tönen. Der einfache, rührende, bedeutende Vortrag verständiger, gefühlvoller Sänger und Sängerinnen blieb oft ohne Theilnahme, wenigstens ohne laute Theilnahmbezeugung, welche die Sänger allein von jener unterrichtet. Sobald aber einer nur aus Leibeskräften hohe und tiefe Töne schnell hinter einander herausgurgelte, war des Klatschens und Beyfallrufens kein Ende. Das deutsche große Publikum scheint sogar noch nicht einmal den Begriff gefaßt zu haben, daß die einzige wahre und große Schwierigkeit in der Kunst nur darin besteht, daß das Hervorgebrachte- welcher Art es auch seyn mag - rein und vollendet sey. - - - Alles dieses - - kränkte und indignirte mich immer mehr. Ich sah dabey, daß ein nicht geringer Theil des Theaterpublikums selbst dabey litt, aber fast immer vergebens strebte, durch seine bessere Stimme dem Parterre eine bessere Richtung zu geben. Das brachte mich auf den Gedanken, es mit einem kleinen liedermäßigen Stücke, dessen ganzer Charakter nur auf Einen angenehmen Eindruck abzweckte, zu versuchen, ob das Theaterpublikum wohl wieder für das Einfache und bloß Angenehme zu interessiren seyn möchte. Ich sah mich nach einem Gegenstande um und glaubte ihn in einem kleinen Stücke zu finden, das ich vor einigen Jahren schon z einem ganz andern Zwecke - zu einem häuslichen Fest für meine eigene Familie - bereitet hatte. Absichtlich hatt' ich damals Lieder von Göthe, Herder und Salis und einige Volkslieder darinnen angebracht, die allen im Hause Lieblingslieder waren, die alle singen konnten und die durch eine kleine Instrumentalbegleitung hinlänglich unterstützt wurden. Diese Lieder waren auch dem Publikum schon längst bekannt; und daß solche bekannte Liedermelodien auch auf ein großes Publikum angenehm wirken, wenn sie vom Theater, in einer interessanten Situation, von guten Sängern, und von einer angenehmen Instrumentalbegleitung unterstützt, vorgetragen <906> werden, hatt' ich öfterer und eben erst an einem eignen Liede in der Geisterinsel erfahren." -

"Daß jenes kleine Stück eigentlich sentimentaler Art war, ließ ein deutsches Publikum mich eben nicht scheuen. Schon in frühern Jahren, wenn ich mich in Paris an manchem witzigen und satyrischen Vaudevilles-Stück ergötzte und mir der Gedanke kam, das angenehmen, unterhaltende Geschlecht auch auf deutschen Boden zu verpflanzen, ward ich nur zu bald gewahr, daß wir das eigentliche französische Vaudeville-Stück, dessen Seele Witz und Satyre ist, gar nicht haben könnten, weil wir keine witzigen und satyrischen Lieder haben, die allgemein gesungen und sentirt würden; und weil, wenn es uns auch nicht an Dichtern fehlen sollte, die Witz und Welt genug hätten, nur das leichte lose Geschlecht mit Glück zu bearbeiten, unser großes Publikum doch wohl schwerlich Sinn und Geschmack dafür haben möchte."

"Unsre Lieder bestehen größtentheils aus empfindsamen Liebesliedern und aus Trinkliedern. Da es mir diesmal aber nur um einen angenehmen Eindruck zu thun war, hielt ich mich an jene."

"Ich nannte das Stück Liederspiel, weil Lied und nichts als Lied den musikalischen Inhalt des Stücks ausmachte, und ich mich sichern wollte, daß das Publikum nichts Größeres erwarten sollte. Ohne damit aber eine eigentliche Verdeutschung des Wortes Vaudeville zu beabsichtigen - über dessen Ursprung die Franzosen selbst sehr verschiedene und zum Theil sehr erzwungene Erklärungen haben - ist der eigentliche Charakter des Vaudeville-Stücks damit dennoch ausgedrückt. - Bey der Orchesterbegleitung hatt' ich mir bloß angenehmen sanften Charakter des Ganzen, die Beobachtung der angemessensten Zweckmäßigkeit für jedes einzelne Lied zur Pflicht gemacht. Ein Lied, wie Göthe's Jägernachtlied, ward bloß von zwey Waldhörnern begleitet; andere, von einem Paar Flöten oder Clarinetten mit schwacher Baßbegleitung <907> eines Fagotts u.s.w. Die Saiteninstrumente wurden nur angewandt, wo es um Bewegung zu thun war und dann auch nur Quartettmäßig benutzt. Statt der Ouverture spielten die Blasinstrumente bloß eine angenehme bekannte Liedermelodie, deren Worte selbst, wenn sie den Zuhörern einfielen, nicht ohne Beziehung auf das Stück waren. Das Orchester erfüllte meine Idee auch ganz nach Wunsch. Eine kleine angenehme ländliche Dekoration war mit Herrn Verona nach der ersten Festidee verabredet und mehrere theilnehmende Zuschauer fanden sich in eine romantische Wald-Gartenscene versetzt, die manche angenehme Reminiscenz in ihnen rege machte."

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