Koch: Musikalisches Lexikon

Passage,

<1140> bezeichnet im engern Sinne des Wortes die ähnliche Fortsetzung einer Notenfigur durch verschiedene Takte, oder die weitere Ausführung eines Gedankens in ähnlichen Notenfiguren. Zuweilen bezeichnet man damit auch einen melodischen Satz, in welchem die melodischen Hauptnoten auf verschiedene Arten zergliedert und mit vielen Nebennoten vereinigt sind. Im weitläuftigsten Sinne verstehet man darunter das Gegentheil von dem Cantabeln, oder solche Tonreihen, deren Vortrag viel mechanische Fertigkeit erfordert.

Die Passagen sind gemeiniglich das Steckenpferd der Concertspieler.1 Sie gehörig zu würdigen, und ihren ästhetischen Werth ganz genau zu bestimmen, würde bey unserer luxuriösen Musik eine weitläuftigere Kritik erfordern, als hier statt finden kann. Daher anjetzt nur einige beyläufige Bemerkungen über den Werth derselben.

So wenig eine Solostimme Anspruch auf ästhetischen Werth machen, oder dem Zwecke der Kunst entsprechen kann, in welcher eine Passage die andere gleichsam jagt, und in welcher sie nur vorhanden sind, um dem Ausführer derselben Gelegenheit zu geben, seine mechanische Fertigkeit zu zeigen, eben so wenig kann der gute Geschmack Ursach haben ihren Gebrauch zu mißbilligen, weil es Empfindungen giebt, die durch zweckmäßige Passagen Stoff zur Unterhaltung gewinnen. Wie vortheilhaft kann z.B. bey dem Ausdrucke einer Empfindung, die sich mit einer gewissen Heftigkeit äußert, und zwar da, wo sie sich in eine gewisse Spannung des Gefühls modificirt, das kühne Daherrauschen einer Passage wirken! Wenn daher durch die Passagen der Charakter oder Ausdruck des Tonstückes nicht verdunkelt oder gar entstellt wird, wenn sich die Passage mit dem Inhalte des ganzen Tonstückes vereint, oder wenn während des Vortrages derselben <1141> die Begleitung den Hauptsatz oder einen Zwischensatz des Ganzen hören läßt, kurz, wenn die Passagen so bearbeitet, und so ins Ganze verflochten sind, wie sie z.E. ein C.Ph.E. Bach oder ein Mozart in ihre Concerte verwebten, dann sind sie sicher dem guten Geschmacke nicht entgegen, und leiten sicher die Vorstellung von dem Zwecke nicht auf Nebensachen. Sind im Gegentheile die Passagen einer Solostimme so beschaffen, daß ein feiner Gefühl jeder derselben zurufen möchte: Freund ! wo bist du herein gekommen? - das heißt, wenn die Passagen mit dem ganzen Inhalte der Solostimme nichts gemein haben, als das Notenblatt, auf dem sie stehen, oder wenn statt der vorhandenen Passage jede andere da seyn kann, die ihr in Ansehung der Tonart, Taktart und Bewegung substituirt werden kann, kurz, wenn sie weiter nichts sind, als entweder ein Schaugerichte mechanischer Fertigkeit, oder ein Mantel, der den Mangel der Folge guter cantabler Sätze verhüllt, dann haben sie sicher keinen ästhetischen Werth, und sind weiter nichts als ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.

Der gute Geschmack verwirft daher nicht den Gebrauch, sondern bloß den Mißbrauch der Passagen. Dieser Mißbrauch hat größtentheils seinen Grund in dem Mangel eines feinen Geschmacks des größern Haufens. Dieser Mangel erzeugte oder begünstigte wenigstens den Wahn, als gehöre zum Vortrage mechanischer Schwierigkeiten mehr Künstler-Virtu, als zum guten Vortrage des Cantabeln. Daher der Beyfall, mit dem man glücklich überwundene Schwierigkeiten krönt, und oft den guten Vortrag des Sangbaren mit Gleichgültigkeit überhört; und eben daher der Nachtheil, daß der Tonkünstler geneigt wird, oder wohl gar, um seinen Unterhalt zu gewinnen, genöthigt ist, mit dem Strome zu schwimmen, und seinen Fleiß größtentheils auf Ausübung zu wenden, worüber mehrentheils der Vortrag des Sangbaren zu sehr vernachläßigt wird. Den Beweiß für diese Behauptung giebt die <1142> große Menge der Tonkünstler, die bey Schwierigkeiten glänzen, und am Adagio scheitern.

Fußnoten:

Fußnote 1 (Sp. 1139/1140):

In der Arie bedient man sich anjetzt, die so genannte Bravour-Arie ausgenommen, weit weniger Passagen, als in dem ältern Geschmacke; ohne Zweifel haben wir die Vermeidung des öftern zwecklosen Gebrauches derselben beym Gesange dem Uebergewichte zu verdanken, welches die komische Oper über das ernsthafte Singspiel gewonnen hat.

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