Koch: Musikalisches Lexikon

Styl,

<1450> Schreibart. Jede besondere Gattung der Tonstücke hat ihren besondern Zweck, welcher es nothwendig macht, daß bey der Verfertigung derselben nicht allein auf die Art, wie sich die Empfindungen dabey zu äußern und zu modificiren pflegen, sondern auch auf zufällige Umstände, z.E. auf Zeit, Ort und Gelegenheit Rücksicht genommen werden muß. Eine und ebendieselbe Empfindung modificirt sich bey verschiedenen Veranlassungen auf ganz verschiedene Art; so ist z.B. die Empfindung des Erhabenen einer im Tempel der Gottesverehrung versammelten Gemeinde sehr merklich verschieden von der Empfindung des Erhabenen, in welche ein versammeltes Volk bey dem feyerlichen Einzuge des Vertheidigers des Vaterlandes versetzt <1451> wird, oder ganz verschieden ist die Empfindung des Erhabenen, die in Mozarts Zauberflöte der Aufzug der Priester der Isis erregt, von dem Erhabenen, welches der Aufzug des Titus bewirkt. - Es ist daher leicht einzusehen, daß die Verschiedenheit der Aeußerungen einer Empfindung auch bey ihrem Ausdrucke durch die Kunst eine Verschiedenheit nothwendig mache.

Auch die zufälligen Umstände verlangen bey der Bearbeitung der Tonstücke eine Verschiedenheit der Behandlungsart der Materie und Form; so kann z.E. ein Tonstück, welches bestimmt ist, in einem großen Gebäude von einer starken Anzahl Tonkünstler aufgeführt zu werden, nicht eben so behandelt werden, wie ein solches, welches für ein Zimmer, und für eine kleine Anzahl Tonkünstler bestimmt ist.

Wenn daher bey der Bearbeitung der Tonstücke auf diese und dergleichen höchstnöthige Gegenstände Rücksicht genommen wird, so erhalten sie etwas Charakteristisches, welches man mit den Wörtern Styl oder Schreibart zu bezeichnen pflegt. Dieses Charakteristische haben die Tonlehrer auf zwey verschiedene Arten klassificirt, nemlich

  1. in Rücksicht auf die Verschiedenheit der Behandlung des Materials der Kunst, oder der Art der Tonverbindungen, durch welche Empfindungen ausgedrückt werden; in diesem Falle hat man zwey Hauptarten festgesetzt, die bald einzeln, bald aber auch mit einander vermischt gebraucht werden, und die man den strengen oder gebundenen, und den freyen oder ungebundenen Styl nennt; und
  2. in Rücksicht auf die Empfindungen selbst, welche ausgedrückt werden; und hierbey hat man drey Hauptarten festgesetzt, die man mit den Namen Kirchen- Kammer- und Theaterstyl bezeichnet.

Der strenge Styl, den man auch die gebundene oder fugenartige Schreibart nennet, und von dessen Entstehungsart in dem Artikel Contrapunkt gehandelt worden ist, unterscheidet sich von dem freyen Style hauptsächlich

  1. durch einen ernsthaftern Gang der Melodie, und durch weniger <1452> Verzierungen derselben. Die Melodie erhält diesen ernsthaften Charakter theils durch die oft vorkommenden Bindungen, wobey die Hauptnoten des Gesanges weniger Verzierungen und Zergliederungen erlauben, als bey den ungebundenen Tonfolgen; theils durch die strengere Beybehaltung des Hauptsatzes und der in demselben vorkommenden Notenfiguren. Weil in der strengen Schreibart eigentlich nur der Hauptsatz des Tonstückes durchgeführt und zergliedert wird, so fällt dadurch das Zusammenreihen solcher melodischen Theile weg, die in einer entferntern Beziehung auf einander stehen, und die gemeiniglich aus verschiedenen Arten von Notenfiguren zusammengesetzt sind, u.s.w.
  2. durch den öftern Gebrauch der gebunden aufgeführten Dissonanzen, wodurch die einzelnen Theile der Harmonie fester in einander geschlungen werden, oder mit andern Worten, durch eine mehr verwickelte Harmonie, und
  3. dadurch, daß der Hauptsatz des Tonstückes gleichsam nicht aus den Augen gelassen, und gemeiniglich immer aus einer Stimme in die andere übergetragen, und dadurch veranlaßt wird, daß jede Stimme den Charakter einer Hauptstimme erhält, und unmittelbar an dem Ausdrucke der Empfindung Antheil nimmt. Daher sagt man, wenn dieses geschieht, das Tonstück sey polyphonisch gesetzt, das heißt, es enthalte den vereinigten Ausdruck der Empfindung mehrerer Personen.

Durch diese und dergleichen Eigenheiten bekömmt der strenge Styl einen eigenthümlichen ernsthaften Charakter, wodurch er vorzüglich zu der Kirchenmusik geeignet wird.

Den Namen der strengen Schreibart hat er theils daher erhalten, weil bey dieser Art zu setzen strengere Regeln beobachtet werden müssen, die hin und wieder in den besonders hieher einschlagenden Artikeln angezeigt werden, theils aber auch daher, weil die Fuge, als das vorzüglichste Produkt dieser <1453> Schreibart, einer strengern Form unterworfen ist, als die übrigen Kunstprodukte. [FN: Siehe Fuge] Die in dieser Art gewöhnlichen Tonstücke sind

  1. die beyden Hauptarten der Fuge, nemlich der Canon und die gewöhnliche Fuge, und
  2. alle diejenigen Sätze, die thematisch bearbeitet sind, ohne in die eigentliche Form der Fuge gegossen zu seyn, das heißt, in welchen ein Hauptsatz in der vorhin angezeigten Verbindungsart der Töne durchgeführt, oder auch in verschiedene Stimmen versetzt und nachgeahmt wird, ohne daß man sich bey dieser Durchführung und Nachahmung an eine bestimmte Form bindet. Hieher gehören die fugirten Chöre der Motetten, die fugirten Choräle u.d.gl.

Die freye oder ungebundene Schreibart, die man auch den galanten Styl nennet, unterscheidet sich von der vorhergehenden,

  1. durch mannigfaltigere Verzierungen der Melodie, und Zergliederungen der melodischen Hauptnoten, durch mehr hervorstechende Absätze und Einschnitte, und durch mehr Abwechslung der rhythmischen Theile derselben, und besonders durch das Aneinanderreihen solcher melodischen Theile, die nicht immer in der nächsten Beziehung auf einander stehen u.s.w.
  2. durch eine weniger verwickelte Harmonie, und
  3. dadurch, daß die übrigen Stimmen der Hauptstimme bloß zur Begleitung dienen, und als begleitende Stimmen mehrentheils keinen ganz unmittelbaren Antheil an dem Ausdrucke der Empfindung haben u.s.w.

Alle Arten der einzelnen Sätze größerer Singstücke, als Arien, Chöre u.dergl.; alle Arten der Ballet- und Tanzmusik, so wie auch alle Einleitungsstücke, Concerte und Sonatenarten, die nicht fugenartig sind, rechnet man zu den Tonstücken in der freyen Schreibart.

Derjenige Styl, dessen man sich bedienet, um würdige, erhabene, und besonders fromme Empfindungen auszudrücken, wird der Kirchenstyl <1454> genannt. Sein Charakter muß demnach Feyerlichkeit, Andacht und Würde seyn. Hier müssen alle üppigen Zierathen des Gesanges und der Instrumentalbegleitung, alle Tonverbindungen, die bloß die Absicht haben, mechanische Fertigkeit der Kehle und der Finger zu zeigen, und wodurch der Ausdruck geschwächt wird, vermieden werden. Bey dieser Art der Musik soll nicht das Ohr gekitzelt, nicht der Einbildungskraft Gelegenheit zu einem willkührlichen Spiele der Ideen gegeben, sondern das Herz gerührt werden.

"Fürnemlich," sagt Sulzer, "muß in den tiefen Stimmen die allzugroße Geschwindigkeit vermieden werden, weil sie in den Kirchen sehr nachschallen, und durch eine schnelle Folge tiefer Töne alle Harmonie verwirrt wird. Deswegen sind alle Arien, die nach der Operform gemacht werden, besonders aber die darin angebrachten Läufe und Schlußcadenzen völlig zu verwerfen."

(Siehe Kirchenmusik.)

Wenn die Musik den Zweck hat, einzelne Personen, oder eine ganze Gesellschaft durch den Ausdruck willkührlich auf einander folgender froher, zärtlicher, trauriger, oder erhabener Gefühle zu vergnügen, oder auch solche Tongemälde darzustellen, die der Einbildungskraft freyes Spiel der daraus zu schöpfenden Ideen überläßt, so bedient man sich zu dieser Absicht des Kammerstyls, der, weil Tonstücke von der so eben angezeigten Art zunächst für Kenner oder besondere Liebhaber der Kunst bestimmt sind, sich besonders dadurch unterscheidet, daß alle Theile des Ganzen feiner ausgemalt sind, als bey Tonstücken, die eine andere Bestimmung haben. Tonstücke im Kammerstyle gleichen den Cabinetsstücken der Malerey, die bestimmt sind, in der Nähe betrachtet zu werden, und daher eine ganz andere Behandlung in der Ausführung erfordern, als z.B. ein Deckengemälde eines großen Saals. Aus eben diesem Grunde erlauben Tonstücke für die Kammer eine Setzart, deren Ausführung <1455> mehr Kunstfertigkeit der Ausführer voraussetzt, als bey Tonstücken die für die Kirche oder für das Theater gesetzt sind.

Derjenige Styl endlich, welcher die Absicht hat, moralische Gefühle auszudrücken, die durch eine dargestellte Handlung veranlaßt werden, wird die Theaterschreibart genannt, die sich eigentlich, weil das Drama nicht bloß für Kenner und Liebhaber der Musik insbesondere, sondern für ein größeres und vermischtes Publikum bestimmt ist, mehr durch Einfachheit des Ausdruckes und durch weniger Kunst von dem Kammerstyle unterscheiden sollte, bey der es aber anjetzt schwer hält, sie von der Kammerschreibart durch eine bestimmt Grenzlinie zu unterscheiden.

Ueber die Eintheilung des Styls in den hohen, mittlern und niedrigen erinnert Forkel, in der Einleitung zu seiner allg. Geschichte der Musik, S. 44 folgendes:

"Die Classification der Schreibarten, nach dem innern Wesen derselben, in die hohe, mittlere und niedrige, wie man sie gewöhnlich bey musikalischen Schriftstellern findet, ist sehr mangelhaft, weil jeder Styl, in jeder Bestimmung, diese verschiedenen Eigenschaften annehmen kann. So kann z.B. selbst in der Kirche die hohe, mittlere und niedrige Schreibart statt finden, je nachdem sie mit einer Classe von mehr oder weniger gebildeten Zuhörern angefüllt ist. Weit besser würde daher die Classification nach den Affecten seyn, deren sich aber meines Wissens noch niemand bedient hat. Auf diese Art würde man etwa folgende Eintheilung machen können:

  1. Styl der traurigen Affecten. -
  2. Styl der fröhlichen Affecten, die in Lustigkeit ausbrechen.
  3. Styl der hohen, stillen Selbstzufriedenheit.
  4. Styl der mürrischen, heftigen Affecten.

"Auf diesem Wege lassen sich die Verschiedenheiten des Styls weit besser unterscheiden, und man kann zu bequemern Eintheilungen gelangen, als auf dem gewöhnlichen. Da der Styl seine größte Verschiedenheit aus den Affecten <1456> nimmt, und nicht aus der Anwendung, so müssen sich seine Verschiedenheiten natürlicherweise eben durch sie am besten und deutlichsten bemerken lassen."

zurück
nach oben