Sulzer: Theorie der Schönen Künste

Arie.

(Musik.)

<208 re> Vom italiänischen Aria. Dieses Wort wird sowol in der Dichtkunst, als in der Musik gebraucht. Dort bedeutet es eine Strophe oder System von etlichen kurzen lyrischen Versen, die insgemein aus zwey Abtheilungen besteht, um von einem einzigen Sänger abgesungen zu werden. In der Musik aber ist die Arie das Singestük, oder bemeldete Strophe <209 li> zum Singen in Noten gesetzt, oder würklich abgesungen.

Manchmal werden die Empfindungen (in einem musikalischen Drama) so stark, und die Gemüthsbewegung wird so groß, daß wir eher nicht zufrieden sind, bis wir uns derselben gänzlich entladen, und das Herz recht weitläuftig ausgeschüttet haben. Dies geschieht nun in einer Aria. Jeder Poet nimmt dazu ein lyrisches Sylbenmaaß; allein unter vielen Gedanken und Worte, liest er nur einige wenige, und zwar diejenigen aus, welche den Affekt gleichsam in einem kurzen Inbegriff schildern, oder doch dem Musikus zu dessen völliger Darstellung Anlaß und Gelegenheit geben [FN: Krause, Christian Gottfried: Von der musikalischen Poesie. Berlin 1752, S. 29]. Diese wenigen Worte enthalten die ganze Theorie der Aria.

Weil sie für einen förmlichen, mit allen Verzierungen der Musik geschmükten Gesang verfertiget wird, so ist offenbar, daß ihr Inhalt einer Ergießung des Herzens seyn müsse. Denn nur in dergleichen Fällen ist es einem Menschen natürlich, seine Sprache in einen Gesang zu verwandeln. Die Arie ist von der Ode und der Elegie nur darinn unterschieden, daß sie die Empfindungen kürzerer und gleichsam nur auf einen Punkt zusammengedrängt schildert.

Sie erfodert demnach einen großen Dichter, der den ganzen Umfang einer Empfindung in wenig, aber sehr wohlfließenden Ausdrüken zu schildern vermag. Eine zu heftige und zugleich unruhige Leidenschaft, die überall Gelegenheit sucht, auf verschiedene Weise auszuschweifen, schiket sich zur Arie nicht, weil die Einheit der Empfindung, die hier nöthig ist, in diesem Fall nicht wol könnte beybehalten werden. [...]

<209 re> [...] Dies einzige wollen wir anführen, daß die Arie aus zwey Theilen, oder eben so viel Sätzen bestehe. Der erste enthält die allgemeine Aeußerung der Empfindung, der andere eine besondere Verwendung derselben. Oder wenn die erste das Besondere der Empfindung ausdrükt, so enthält der andere das Allgemeine derselben. Denn auf diese Weise hat der Tonsetzer Gelegenheit, den Ausdruk am vollkommensten zu bearbeiten. Ueberhaupt ist die Arie am vollkommensten, wenn der erste Theil mit dem zweyten einen Gegensatz ausmacht.

Es wäre zu wünschen, daß die Tonsetzer eine ebenso gründliche Anleitung für ihrer Bearbeitung der Arie hätten, als die ist, welche man den Dichter gegeben hat. Aber in diesem Stük, wie in sehr vielen andern, ist die Theorie des Tonsetzens überaus versäumt worden.

In Ansehung der äußerlichen Form der Arie haben die welschen Tonsetzer eine Mode eingeführt, die beynahe zum Gesetz geworden ist. Zuerst machen die Instrumente ein Vorspiel, das Ritornel genannt, in welchem der Hauptausdruk der Arie kürzlich vorgetragen wird; hierauf tritt die Singestimme ein, und singt den ersten Theil der Arie ohne große Ausdehnung ab; wiederholt hernach die Sätze und zergliedert sie; alsdenn <210 li> ruht die Stimme etliche Takte lang, damit der Sänger wieder frey Athem holen könne. Während dieser Zeit machen die Instrumente ein kurzes Zwischenspiel, in welchem die Hauptpunkte des Ausdruks wiederholt werden; hierauf fängt der Sänger wieder an, die Worte des ersten Theils noch einmal zu zergliedern, und hält sich vornehmlich bey dem Wesentlichsten der Empfindung auf; alsdenn schließt er den Gesang des ersten Theils; die Instrumente aber fahren fort den Ausdruk immer mehr zu bekräftigen, und schließen endlich den ersten Theil der Arie.

Der andre Theil wird hernach ohne das viele Wiederholen und Zergliedern, das im ersten Theil statt gehabt, hinter einander abgesungen, nur daß die Instrumente ab und zu, bey kurzen Pausen der Singestimme den Ausdruk mehr bekräftigen. Wenn der Sänger ganz fertig ist, so machen die Instrumente wieder ein Ritornel, nach welchem der erste Theil der Arie noch einmal eben wie zuvor wiederholet wird. Dies ist die allgemeine Form der heutigen Arien.

Man muß gestehen, daß Sie dem Zwek der Musik sehr gemäß und vernünftig ausgedacht ist. Das Ritornel läßt dem Sänger, der durch das vorübergehende Recitativ etwas ermüdet worden ist, Zeit, Athem zu holen und sich zu einem guten Gesang vorzubereiten; zugleich wird der Zuhörer in die gehörige Fassung und nöthige Aufmerksamkeit gesetzt. Indessen bindet sich der Tonsetzer nicht allemal an diese Gewohnheit; sondern läßt bisweilen die Singestimme, ohne alle Vorbereitung, anfangen. Dies ist bey gewissen Gelegenheiten, wo die Affekte recht heftig sind, von sehr guter Würkung, [... - Verweis auf die Arie O numi, consiglio in tanto periglio aus der Oper Cinna. Der Komponist wird nicht genannt.]

<210 re> Daß der erste Theil der Arie anfänglich ununterbrochen abgesungen wird, wobey die Instrumente meistens schweigen und nur hie und da der Stimme eine Nachdruk geben, hat seinen guten Grund. Denn auf diese Weise übersieht man den ersten Theil geschwind und wird in die gehörige Fassung gesetzt, das zu empfinden, was die Dichter und Tonsetzer uns wollen empfinden machen. Erst alsdenn sieht man, worauf es in der Arie hauptsächlich ankommt. Darum wiederholt als den der Sänger die kräftigsten Ausdrüke, bringt sie in verschiedene Tonarten und mit veränderten Wendungen vor.

Dieses ist der Natur der Empfindungen gemäß, die immer wieder auf denselben Hauptgegenstand, der sie vorgebracht hat, zurük kommen und ihn aus allen Ansichten betrachten. Eben dadurch aber bekommt auch der Zuhörer Zeit, sich völlig in den Affekt zu setzen. Wenn der Sänger den Schluß gemacht hat, so geben die Instrumente der Empfindung noch den letzten Nachdruk.

Weil der zweite Teil der Arie insgemein nur eine besondere Anwendung des ersten ist, in welchem die Empfindung schon erschöpft worden, so wird dieser Theil mit weniger Umständen abgesungen, und insgemein giebt der Tonsetzer durch die Veränderung der Tonart, oder des Zeitmaßes, in diesem Theil dem Ausdruk einen neue Wendung.

Die Wiederholung des ersten Theils, welches das DA CAPO genennt wird, hat vermuthlich keinen andern Grund, als die Begierde, das, was man einmal gut ausgedrükt hat, noch einmal hören zu lassen. In der Musik geht alles ziemlich schnell vorbey. Die Wiederholung macht, daß wir die Hauptausdrüke der Arie desto besser behalten. Damit sie aber nicht unnatürlich werde, <211 li> so müssen beyde, der Dichter und der Tonsetzer, die Arie so anordnen, daß das würkliche Ende derselben im Ausgang des ersten Theils sich befinde. Dieses ist eine leichte Sache, da bey dem ersten Vortrag dies Ende den zweyten Theil unnatürlich machen könnte. Am natürlichsten wird die Wiederholung, wenn der zweyte Theil so beschaffen ist, daß man am Ende desselben natürlicher Weise in eine Erwartung gesetzt wird, die durch die Wiederholung des ersten erfüllet wird. [...]

Es giebt doch besondere Fälle, wo die Ueberlegung dem Tonsetzer von der beschriebenen Form der Arie abzuweichen befiehlt. Nur schlechte Künstler, die keine Regel, als die Gewohnheit, kennen, binden sich überall an das Gewöhnliche. Daher sehen wir bisweilen, daß in Arien, wo der Dichter nichts hineingebracht hat, das einer besondern Aufmerksamkeit werth wäre, der Tonsetzer nichts bedeutende Ausdrüke eben so oft wiederholt, und schwache Empfindungen eben so zergliedert, als andre mit wichtigen gethan haben. Dadurch aber werden sie abgeschmakt und frostig. Eben so einfältig werden von vielen die nachdrüklichen Erhöhungen des Ausdruks durch die Instrumente angebracht. Sie haben gesehen, daß es eine sehr gute Würkung tun, wenn an gewissen Orten, wo der Gesang sein mögliches zum Ausdruk gethan hat und denn etwas pausirt, die Instrumente den Ausdruk fortsetzen und noch höher bringen. Dieses verleitete sie, ohne alle Ueberlegung die Stimme bisweilen pausiren zu lassen, während <211 re> welcher Zeit sie die Instrumenten einige nichts bedeutende oder gar dem Ausdruk entgegenstreitende Zierrathen und Schnörkel, anbringen lassen.

Am allermeisten werden die Ausdehnungen oder Läufe übertrieben; davon aber haben wir in einem gesonderten Artikel gesprochen.

Ein gründlicher Tonsetzer bindet sich an keine Form so, daß er sich nicht, nach Beschaffenheit der Sache davon entfernte. Er sieht allemal auf das Wesentliche des Ausdruks. Erfodert dieser starke und wenige Aeußerungen, so setzt er seinen Gesang stark, einfach und ohne Modeverzierungen. Eilt der, dem der Ausdruk der Empfindung in den Mund gelegt wird, in seinen Vorstellungen, so verweilt er nicht in seinem Gesang. Ist aber die Empfindung selbst so, daß man natürlicher Weise wortreich dabey ist, so zergliedert er alles in gehörigem Maaße. In ernsthaften und etwas verdrießlichen Affekten, hütet er sich vor Ausdehnungen und vor Läufen, wenn die Worte auch noch so geschikt dazu wären. Die Instrumente läßt er keine Geräusche machen, wo eine Stille erfodert wird, läßt sie nicht sanft gehen, wo die Empfindung brausend ist. Er verschwendet den Reichtum seiner Instrumente nicht so, daß er glaubt, es müssen alle mitspielen, sondern nimmt nur gerade die, welche der Ausdruk erfodert.

Was sons ein durch den guten Geschmack geleiteter, Tonsetzer überhaupt bey glüklicher Erfindung und Ausarbeitung der Arien überlegt, ist in dem Artikel, Ausdruck und Singstük, schon ausgeführt worden.

[...]

<212 li> Vor allen Dingen bedenke er, daß er nicht darum singt, um den Zuhörer für seine Geschiklichkeit einzunehmen, sondern ihm das Bild eines von Empfindung durchdrungenen Menschen auf das vollkommenste darzustellen. Je mehr es ihm gelingt, den Zuhörer vergessen zu machen, daß er nur einen Schauspieler oder Sänger vor sich hat, je größer wird sein Ruhm werden. Die verständigern Zuhörer wollen nicht seine Kehle, sondern sein Herz bewundern. Sobald sie merken, daß er sie von der Sache selbst abführen, und ihnen die Bewunderung seiner Kunst abzwingen will, so werden sie frostig.

Deswegen wende er die ernsthafteste Bemühung an, den wahren Charakter der Arie ganz zu fassen, jeden Gedanken des Dichters und Tonsetzer auf das sicherste zu ergreifen; diesem zufolge jede Sylbe und jeden Ton in seinem wahren Lichte darzustellen. Hat er überdem die Geschiklichkeit, durch selbst hinzu gesetzte Töne den Ausdruk zu verstärken, so bringe er sie an, aber nicht eher, bis er gewiß ist, daß sie diese Würkung haben. Kann er dieses nicht, so halte er sich lediglich an dem, was ihm vorgeschrieben ist. Er hat noch genug an der besten Wendung der ihm vorgezeichneten Töne zu studiren. Ein einziger einfacher Ton, der in die Seele dringt, ist mehr werth, als eine ganze Reihe künstlicher Läufe, die nichts sagen, als daß sie schwer zu machen sind.

<212 re> [Zusatz:] Da H. S. [Herr Sulzer] einmahl die Ableitung des Wortes, Arie geben wollen: so will ich nur erinnern, daß Rousseau, in s. [seinem] Musikalischen Wörterbuch, diese Ableitung ein wenig gründlicher geliefert hat; und da der Artikel blos von der Opernarie überhaupt handelt: so hätte des Duet, und des Terzet, wenigstens im Allgemeinen, gedacht werden sollen. [...] In allen diesen Aufsätzen scheint aber vergessen worden zu seyn, daß der Ausbruch, auch der größten Gemüthsbewegung, und die Art und Weise dieses Ausbruches, in der Natur, nicht von der inneren Größe derselben allein, sondern immer nur von den sie begleitenden, äußern Umständen, mit abhängt, und von dieser modificirt wird. Die wenige Rücksicht hierauf hat unstreitig, selbst den beßten Singspielen, den Vorwurf der Unnatürlichkeit von Seiten derjenigen zuziehen müssen, welche über die Natur der menschlichen Leidenschaften nachgedacht haben, und von der Darstellung derselben, Wahrheit verlangen. [...]

[...]

<213 re> Wer, indessen, etwas ganz Brauchbares für die Composition der deutschen Arie liefern wollte, müßte vorzüglich untersuchen, ob und in wie fern unsre Sprache so gut, als z.B. die italienische, alle die Versetzungen, Wiederhohlungen, und Verbindungen der verschiedenen Worte einer Arie, wodurch die kunstreiche, musikalische Ausbildung einer italienischen Opernarie so sehr begünstigt wird, verträgt? Ob wir nicht leichter, als die Italiener, den Sinn und Zusammenhang derselben, durch eine dergleichen Ausbildung, aus dem Gesichte verlieren, und verlieren müssen? Ob wir hierüber, durch die Musik, entschädigt werden? u.d.m. Ohne Rücksicht auf die Natur und die Eigenheiten einer Sprache, wird, bey diesem Theil der schönen Künste, alles Raisonnement zu leerem Geschwätz; und das, was man gewöhnlich das Musikalische einer Sprache nennt, entscheidet, bey weitem, die Sache nicht allein.

zurück