Riemann: Klavierschule op. 39,1

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Kap. 12 [Seite 5 von 10]

Steht nach dem angeführten nicht zu befürchten, dass wir viele Fehler machen, wenn wir in zweifelhaften Fällen lieber <67> Vorschläge statt Nachschläge annehmen und uns bezüglich des letzterwähnten Punktes lieber an die Vorschrift "fast aller Tonlehrer" als an Türks übrigens nicht zu verachtenden Geschmack halten, so können wir über die Takteintheilung der anschlagenden Verzierungen nicht mehr in Zweifel sein; neue Scrupel erfassen uns aber bei der Frage, ob die Vorschläge leicht oder accentuirt zu geben sind. Bezüglich der langen Vorschläge ist es klar, dass sie accentuirt zu geben sind; Türk (a.a.O. S. 218) sagt ganz treffend: "Die Vorschläge fallen immer in die gute oder wichtigere Zeit des Taktes oder der jedesmaligen Note, daher müssen sie schon in dieser Rücksicht stärker angegeben werden als der folgende Ton. Sodann verhalten sich der oben gemachten Bemerkung nach die mehrsten Vorschläge zu dem Bass oder zu irgend einer anderen Stimme bald mehr bald weniger dissonirend. Da nun dem guten Vortrage gemäss (wie am gehörigen Orte erklärt werden soll [FN], die Dissonanzen merklich stärker angeschlagen werden als die consonirenden Intervalle, so lässt sich auch hiervon die Anwendung auf die veränderlichen Vorschläge machen. [FN: Vergl. § 11, S. 57 ff.] Eine andere Frage aber ist die: ob sich diese Regel zugleich auf die kurzen Vorschläge bezieht. Hier aber sind die Meinungen der Tonlehrer verschieden. Einige z.B. J.Fr. Agricola (Übersetzung von Tosis Anleitung zur Singkunst, S. 64), C.Ph.E. Bach, (Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen, S. 56), Marpurg (Anleitung zum Clavierspielen, S. 48) etc. wollen alle Vorschläge auch die unveränderlich kurzen, stark vorgetragen haben; dahingegen (L.) Mozart (Gründliche Violinschule, S. 200, 207) das Gegentheil verlangt. Die übrigen Schriftsteller der Musik, welche eine Stimme hierbei haben könnten, schweigen ganz davon. Dies letztere ist auch wohl das sicherste Mittel, allem Widerspruche zu entgehen; nur möchte damit den wissbegierigen Lernenden nicht viel gedient sein. - Da diese unveränderlichen Vorschläge meistentheils durchgehend sind und nach Sulzers Ausdruck, <68> in der Harmonie nicht in Betracht kommen, da sie sogar oft vor einem anderen ausgeschriebenen Vorhalte stehen usw., so würde ich die kurzen Vorschläge im ganzen genommen lieber schmeichelnd als zu stark vortragen und den Nachdruck auf den folgenden Ton legen. Doch gebe ich gern zu, dass in verschiedenen Fällen Gegengründe vorhanden sein können, die Ausnahmen hiervon nöthig machen [FN]."

Da haben wir wieder das Dilemma; indessen stehen doch Leop. Mozart und Türk mit ihrer Ansicht unter den älteren ziemlich vereinzelt da und erst in neuerer Zeit hat die Ansicht, die kurzen Vorschläge müssten schwächer gespielt werden als die Hauptnote, mehr Anhänger aufzuweisen. Die meisten neueren Schulen berühren die Frage der Accentuirung gar nicht und betonen nur die Kürze der Ausführung. Am entschiedensten tritt noch die Lebert-Stark'sche Clavierschule für die Accentuirung des kurzen Vorschlags ein, indem sie diesem den rhythmischen, der Hauptnote aber den melodischen - Accent [FN] zuweist (II. Theil S. 93); sie macht ferner einen Unterschied, jenachdem die Hauptnote kurz oder lang ist: im ersteren Falle soll der melodische Accent leichter, in letzterem schwerer sein. Auch Pralltriller, Schleifer, anprallender Doppelschlag etc. setzen danach mit dem rhythmischen Accent ein.

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