Kinkel, Briefe

Kinkel: Acht Briefe über Klavierunterricht

7. Brief [Musiktheorie und Generalbaß]

<53> Ein geschichtliches Studium der Musik ohne alle und jede theoretische Kenntnisse möchte wohl unmöglich sein. Selbst der bloße Clavierspieler kann den Generalbaß schwer entbehren, und kein Lehrer sollte einem vorgerückten Schüler ein Stück einüben, über dessen innern Bau jener sich in völliger Unwissenheit befände. Wer gar keine Akkordenlehre kennt, der spielt meist die Noten wie ein Kind, das ein lateinisches Gedicht auswendig gelernt hat, ohne dessen Sinn zu kennen. Ein anderes Gleichniß bezeichnet Dir wohl <54> genauer, was ich meine: Ein Maler, der nicht Anatomie studirt hat, wird nie den menschlichen Körper so ausdrucksvoll malen, als ein anderer, welcher genau weiß, welche Muskeln sich unter der Haut bewegt. Sogar dem Faltenwurf siehst Du es an, ob der Maler nur die Oberfläche seines Gegenstandes beobachtet hat. Ganz ebenso hörst Du aus dem Vortrag des Spielers heraus, ob ihm das Skelett der Composition bewußt ist oder nicht.

Es giebt zwar große Talente, deren musicalisches Ahnungsvermögen sie ohne alle Kenntnisse an ein weiteres Ziel führt, als andere Minderbegabte trotz ihres Willens erreichen, aber da hebt meine Behauptung nicht auf, denn was hätten jene mit den Kenntnissen erreichen können, was würden diese ohne sie geblieben sein?

Ein Dilettant, der es nur so weit gebracht hat, daß er Musik von der Schwierigkeit der leichtern Mozartschen <55> Sonaten bewältigen kann, müßte soviel Generalbaß verstehen, daß er ein Vorspiel oder eine Begleitung zu einem Liedchen improvisiren und in jede Tonart transponiren könnte. Dieß ist eine so kleine Anforderung, und doch, wie viel mehr Werth hätte für Jeden ein solches Können, als das fertigste Spielen eines schweren Clavierconcerts?

Die Generalbaßstudien, wie ich mir sie für das Bedürfniß der Mädchen etwa denke, die der Musik als nur einem Theil ihrer allgemeinen Bildung wenig Zeit opfern können, dürfen freilich nicht so eingerichtet werden, daß sie bloß auf dem Papier bleiben, und nach unendlicher Schreiberei endlich das Resultat eines höchst trockenen Compositionsversuches erzielt wird. Nein, sogleich auf dem Clavier muß jeder neugewonnene Akkord praktisch angewendet und, wo er in fremden Compositionen vorkommt, wieder erkannt werden. Dieß spornt den Trieb, mehr zu wissen, und mit <56> jedem neueroberten Fußbreit wächst die Freude und das Interesse an der Musik. Wie verehrungswürdig schauen den Schüler die Räthsel in den reichhaltigern Kunstwerken an, deren Größe er nun zu ahnen beginnt, da sein Ariadnefaden nicht mehr ausreicht, um in ihre labyrinthischen Tiefen einzudringen - und wie sinkt in seinen Augen alles Seichte und bloß Aeußerliche, wenn er den ärmlichen Stoff durchschaut, mit dem das Blendwerk hingestellt wurde! Und das ist schon ein Gewinn, wenn der Schüler einsieht: hier ist eine Leistung über meinen Horizont, die darf ich mit meinem Urtheil nicht antasten; oder: jenes gefällt mir zwar, weil es dem Ohr schmeichelt, aber ich sehe dennoch ein, daß es eine werthlose Arbeit ist. Ist er sich bewußt, daß ihm etwas Dummes gefallen und ein Erhabenes fremd bleiben konnte, so quält er den Künstler nicht mehr mit albernem Kunstgeschwätz, denn dieß ist und bleibt, wie sich der Schaffende auch <57> darüber hinwegsetzen möge, ein stetes Hemmniß für den Fortschritt der Musik.

Alles Mathematische ist für die weibliche Natur mit einer besondern Schwierigkeit verknüpft; darum das Erlahmen der meisten Schülerinnen, wenn der Generalbaß sie erst in die umgekehrten Contrapunkte führt, deren Princip der Mann spielend auffaßt. Man muß außerordentlich kleine Schritte machen und so geduldig sein, wie bei eines Kindes ersten Redeversuchen.

Laß mich Dir beschreiben, welches Gängelband ich mir ausgesonnen habe, um das System der verwandten Tonarten jungen Mädchen rasch und leicht einzuprägen. Ein Rigorist wird es vielleicht verspotten; aber da es sich mir in unzähligen Fällen praktischer erwiesen hat, als das bisherige aus den Büchern, so habe ich jedenfalls die Erfahrung für mich.

Zuerst wird eine Tabelle auf Notenpapier von <58> zwölf Systemen linirt, und, dem Quintenzirkel nachfolgend, jede Tonleiter hineingeschrieben, so daß C-dur oben anfängt, auf der siebenten Linie Fis-dur mit Ges-dur verwechselt wird und F-dur die unterste Linie beschließt.

Nun wird auf die Prime und die Quinte der Dreiklang gesetzt, vorher darauf aufmerksam gemacht, daß die Intervalle desselben schon in der Tonleiter enthalten waren, und oben die Namen Tonica und Dominante angeschrieben. Damit haben sie das ganze Blatt herunter die Uebersicht des wichtigen Dominante-Akkords auf der fünften Stufe einer jeden Tonart. Jetzt müssen sie kleine Stückchen erfinden, in denen bloß diese beiden Akkorde abwechseln; hierin ist kein Irren möglich; denn wenn sie nur mit der Tonica anfangen und aufhören, so stimmt es immer. Sie dürfen zur Abwechselung weiter und enge Arpeggien daraus machen, und nichts ist ihnen verboten, als <59> daß Ober- und Unterstimme in Quinten und Oktaven fortschritten. Eher dürfen sie keinen Schritt weiter, bis sie darin fest sind. Die Allerunachtsamste selbst hat sich leicht gemerkt, daß das einfachste Mittel hierzu ist, mit der rechten Hand herunter zu greifen, wenn die Linke steigt, und umgekehrt, oder daß die eine Hand einen kleinen Schritt machen muß, wenn die andere einen großen thut.

So darf man denn bald der Schülerin noch einen dritten Akkord preisgeben, nämlich den Dreiklang auf der Unterdominante (vierte Stufe der Tonleiter); der ist wieder leicht zu finden: Tonica in der Mitte, von da fünf Töne herauf mit der Linken zur Dominante, oder vom ersten Ausgangspunkt fünf Töne zurück zur Unterdominante. Ueberhaupt darf die Linke, bis die verwandten Tonarten der Tabelle sämmtlich vorgekommen sind, nichts greifen als den Grundbaßton. Alle Umkehrungen verwirren die Anfängerinnen, ehe sie <60> alle Dreiklänge in ihrer ersten natürlichen Gestalt mit den verschiedenen Lagen sich fest eingeprägt haben. Fällt ihnen keine neue Form mehr ein, um aus jenen drei Akkorden ein Sätzchen zu bauen, so muß der Lehrer ihnen nachhelfen und ihnen irgend eine neue Figur innerhalb derselben zeigen.

Fast die meisten Volkslieder lassen sich mit diesen drei Akkorden begleiten, und thut man gar einen Mollakkord hinzu, so ist ja beinahe der Stoff vorhanden, um eine ganze italienische Oper zu machen.

Der nächste Akkord, den man in den Kreis mit hineinzieht, ist am besten: der Dreiklang auf der sechsten Stufe der Tonleiter, dem man die Ueberschrift: Parallel-Tonart, giebt, denn unter diesem Namen kennen ihn die Schülerinnen vom ersten Erlernen der Tonleiter auf dem Claviere her. Dieser Akkord paßt wieder überall hin, und zwischen jedem der vorherigen harten, strengen Dreiklänge, bildet er <61> ein weiches, weiblich vermittelndes Element. Will man schnell vorwärts kommen, so lasse man die Schülerinnen die alten Figuren wieder anbringen, denen ja ohnehin durch das Hinzutreten der Molltonart nun eine frische Mannigfaltigkeit zugewachsen ist.

In dieser Weise fährt man ruhig fort, jeden neu hinzugekommenen Akkord durch alle Tonarten anbringen zu lassen, wobei man, wie oben erwähnt wurde, Alles, nur keine Quinten- und Oktavenfortschreitungen zwischen Ober- und Unterstimme dulden darf. Nach der Parallel-Tonart läßt sich am leichtesten der weiche Dreiklang auf der zweiten Stufe der Tonleiter einflechten, zuletzt, als schwierigste, der auf der dritten Stufe (Mediante). Man mache den Schüler darauf aufmerksam, daß dieser am natürlichsten nach der Dominante, mit der er am nächsten verwandt ist, angebracht werden kann.

Ist dieser Gang vollendet, und das geht bei einer Schülerin, die nur irgend ein musikalisches Gehör hat, <62> in einem Monat reichlich, so macht sie von selbst keine Quinten- und Oktavenfortschreitungen mehr.

Lehrst Du sie nun noch den Hauptseptimen-Akkord richtig anzubringen und aufzulösen, so kann sie sich für alle Dilettantenbedürfnisse selbst helfen. Hat sie den Trieb, weiter zu gehen, so füge der Tabelle die Umkehrungen der Akkorde bei, und lehre sie dieselben ebenso, wie das Vorige, nach und nach behandeln, wobei Du aber ohne schriftliche Aufgaben zugleich nicht fertig werden wirst. Dann mündet die Sache ferner vollständig in den Generalbaß ein, in die Kenntniß sämmtlicher Akkorde, Vorhalte, Modulationen u.s.w., wozu ein dilettirendes Frauenzimmer keine Zeit hat, und im Fall sie es auch lernte, wenn ihr die Schöpferkraft fehlt, nichts damit zu machen wüßte. Sehr besonnenen Naturen kann man höchstens die verschiedenen leitereigenen Septimenakkorde noch beibringen.

<63> Großen Talenten wird nach diesem Vorhergehenden die vollständige Theorie ein unerläßliches Bedürfniß werden. Aber der Lehrer darf nicht außer Acht lassen, welchen Schnitt in alles Lernen der Frauen die Heirath macht. Diese Rücksicht allein schon macht es nöthig, für Dilettantinnen bestimmte Stufen anzuordnen, auf denen es möglich ist, sich so festzustellen, daß sie im Laufe des Lebens des Erlernte nicht mehr verlieren können.

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