Koch: Musikalisches Lexikon

Anlage.

<146> Man Spricht bey der Verfertigung der Kunstprodukte von einer dreyfachen Arbeit, die der Künstler dabey zu übernehmen habe, und die man durch die Ausdrücke Anlage, Ausführung, und Ausarbeitung unterscheidet. So wie schon in dem gemeinen Leben jeder vernünftige Mensch bey dieser oder jener Handlung einen bestimmten Zweck hat, den er dadurch zu erreichen gedenkt, und so wie es niemanden einfallen kann, auf die Mittel zur Erreichung eines Endzweckes zu denken, den er nicht kennet, oder zu erreichen wünscht, eben so nothwendig muß der Tonsetzer, der den Vorsatz faßt, ein Tonstück zu bearbeiten, zuerst den Endzweck, oder den Charakter und die Empfindung desselben bestimmen, die dadurch in dem Gemüthe der Zuhörer erweckt werden soll, ehe er auf die Erfindung der Mittel denken kann, durch welche er diesen Endzweck am sichersten zu erreichen hofft. Die Bestimmung <147> des Charakters oder der Empfindung eines Tonstücks, insbesondere aber die Erfindung der wesentlichen Theile desselben, durch welche die Empfindung ausgedrückt werden soll, wird die Anlage des Tonstückes genannt. Bey der Ausführung werden diese wesentlichen Theile des Ganzen in verschiedenen Wendungen und Zergliederungen in den Perioden durchgeführt, damit die auszudrückende Empfindung die nöthigen Modfikationen, und der Satz den Stoff zur Fortdauer des Ausdruckes dieser Empfindung erhalte. (Siehe Ausführung.)

Die Ausarbeitung beschäftiget sich sodann mit den zufälligen Schönheiten des Werks, mit Hinzufügung der Neben- und Füllstimmen, und mit dem, was man bey Kunstwerken die Feile nennet. (Siehe Ausarbeitung.)

Die Anlage enthält also alle wesentlichen Theile eines Tonstücks. Alle Vollkommenheiten desselben, die nicht schon in der Anlage enthalten sind, können, so vortheilhaft sie auch dem Ganzen seyn mögen, nur als zufällige Schönheiten betrachtet werden, deren Mangel durch Schönheiten anderer Art wieder ersetzt werden kann; aus einer mangelhaften Anlage hingegen kann nie ein vorzügliches Kunstwerk entstehen. Jedes Kunstwerk erhält demnach seinen vorzüglichen Werth durch die Vollkommenheit seiner Anlage, und eben daher erfordert sie auf Seiten des Tonsetzers das meiste Genie. Sey es doch, daß die Ausführung und Ausarbeitung der Tonstücke sich mit dem Geschmacke der Zeit abändern, so behält dennoch das Kunstwerk von einer vortrefflichen Anlage immer einen bleibenden Werth.1

"Daher ist auch" (sagt Sulzer) [FN: Allg. Theorie der schönen Künste, Art. "Anlage"] "jedem Künstler zu rathen, nicht nur die größte Anstrengung des Geistes auf die Anlage, als den wichtigsten Theil, zu wenden, sondern auch <148> nicht eher an die andern Theile der Arbeit zu gehen, bis dieser glücklich und zu seiner eigenen Befriedigung zu Stande gebracht ist. Schwerlich wird ein Werk zu einer über das Mittelmäßige steigenden Vollkommenheit kommen, wenn die Anlage nicht vor der Ausführung vollkommen gewesen. Die Unvollkommenheit der Anlage benimmt dem Künstler das Feuer und sogar den Muth zur Ausführung. Einzelne Schönheiten sind nicht vermögend, die Fehler der Anlage zu bedecken. Besser ist es allemal, ein Werk von unvollkommener Anlage ganz zu verwerfen, als durch mühsame Ausführung und Ausarbeitung etwas unvollkommenes zu machen. Es scheint eine der wichtigsten Regeln der Kunst zu seyn, sich nicht eher an die Bearbeitung eines Werkes zu machen, bis man mit der Anlage desselben vollkommen zufrieden ist. Denn diese Zufriedenheit giebt Kräfte zur Ausführung."

Das Wort Anlage, nicht als besondern Kunstausdruck betrachtet, bezeichnet eine natürliche Fähigkeit zu einer Sache. Er hat Anlage zur Musik, heißt eben so viel, als er besitzt die Eigenschaften, wodurch er fähig wird, in der Kunst starke Fortschritte zu machen.

Fußnoten:

Fußnote 1 (Sp. 147/148):

Diese Wahrheit verdient besonders von denjenigen erwogen zu werden, die von Modeschönheiten der Ausarbeitung geblendet, nicht begreifen können, wie es möglich sey, daß man den Werken älterer Tonsetzer so vielen Werth beylegen kann.

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