Koch: Musikalisches Lexikon

Ausführung.

<187> Die ausgeführten Produkte der bildenden Künste gehen aus der Hand des Künstlers in einer so vollendeten Darstellung hervor, daß man zu dem Genusse derselben weiter keines besondern Hülfsmittels bedarf.- Nicht so bey den Werken des Tonsetzers, dessen vollendete Partitur ohne Beyhülfe des Vortrags gleichsam nur noch eine Schrift von Hieroglyphen enthält, die nur dem Geiste des Eingeweiheten in dem innersten Heiligthume der Kunst verständlich ist. Für den gewöhnlichen und allgemeinen Genuß ist ein solches vollendetes Kunstwerk noch tod, und muß erst durch lebendige Darstellung seiner Zeichen vermittelst der Gesangorgane oder der Instrumente dem Empfindungsvermögen durchs Ohr verdollmetschet werden. Daher kömmt es, daß das Wort Ausführung in der Tonkunst zwey verschiedene Bedeutungen hat, denn

  1. bedient man sich desselben, um einen gewissen Theil der Bearbeitungsart der Tonstücke damit zu bezeichnen; man sagt z.B. der Tonsetzer habe dieses oder jenes Tonstück gut ausgeführt. In diesem Falle ist also die Rede von der Art, wie der Componist die Hauptgedanken des Satzes in den verschiedenen Perioden desselben durchgeführet hat. Man braucht dieses Wort aber auch,
  2. wenn entweder von dem Vortrage einer besondern Stimme, oder von dem gemeinschaftlichen Vortrage aller zu einem Tonstücke gehörigen Stimmen die Rede ist; daher pflegt man zu sagen, er hat die Ausführung dieser oder jener <188> Stimme übernommen, oder das Tonstück ist von dem Orchester gut ausgeführet worden, u.s.w. Es werden also mit diesem Worte zwey sehr wichtige Gegenstände der Kunst bezeichnet, von denen wir jeden insbesondere näher betrachten müssen.

Es ist schon in dem Artikel Anlage gezeigt worden, daß die Verfertigung eines Tonstücks drey besondere Beschäftigungsarten nothwendig macht, nemlich die Anlage, die Ausführung und die Ausarbeitung. In der Anlage werden die wesentlichen Theile des Ganzen festgesetzt, und das Geschäfte der Ausführung ist, diese Theile in verschiedenen Wendungen und Zergliederungen durch verschiedene Hauptperioden durchzuführen. Durch dieses Verfahren bekömmt nicht allein das Tonstück seinen Umfang, sondern die auszudrückende Empfindung erhält auch dadurch die nöthigen Modifikationen, und das Tonstück selbst den Stoff zur Fortdauer des Ausdruckes der Empfindung. Die Anzahl und der Umfang dieser Hauptperioden, desgleichen auch die dabey beobachtet Tonausweichung, der Ort, wo dieser oder jener Haupttheil des Ganzen wiederholt wird, u.s.w. giebt jeder Art der Tonstücke die ihnen eigenthümliche Form.

Der Tonsetzer, der einen Satz ausführt, wiederholt bald diesen, bald jenen Hauptgedanken, je nachdem er die Empfindung, die er ausdrückt, modificiren will; er braucht bald diesen, bald jenen Hauptgedanken, und setzt ihn vermittelst der in demselben herrschenden Notenfigur dergestalt fort, daß diese Fortsetzung mehr Licht und Deutlichkeit über den Gedanken selbst, verbreitet; oder er verbindet damit einen solchen zufälligen Nebengedanken, der ihn wieder zu einem andern Hauptgedanken führt, u.s.w. Diese Verfahrungsart stimmt vollkommen mit der Natur unserer Empfindungen überein, die ebenfalls immer wieder auf den Hauptgegenstand zurückkehren, der sie hervorgebracht hat, die immer gern ihren Gegenstand aus vielen Gesichtspunkten betrachten.

So wie die Anlage hauptsächlich die Sache des begeisterten Genies war, so ist nun die Ausführung mehr der Gegenstand des Geschmacks, <189> wobey aber auch zugleich die höhern Kräfte des Geistes, besonders die Beurtheilungskraft ihre Wirksamkeit äußern müssen, wenn der Tonsetzer in dem Feuer der Arbeit nicht in die Gefahr kommen soll, durch Nebenideen auf Abwege geleitet zu werden. Er würde bey der vollkommensten Anlage in der Ausführung seinem Zwecke ganz entgegen handeln, wenn er z.B. einen Satz, der eine solche Empfindung zum Gegenstande hat, die ihrer Natur nach sich gern bey ihren Modifikationen verweilt, eben so ausführen wollte, wie einen solchen, in welchem eine Empfindung ausgedrückt wird, die mit einem gewissen Drange und mit Heftigkeit von einer Modifikation zu der andern übergehet. Man siehet übrigens aus diesem Beyspiele zugleich, daß die Art der Ausführung eines Tonstücks hauptsächlich von der Beschaffenheit der auszudrückenden Empfindung bestimmt werden muß, und daß eine hinlängliche Kenntniß der Natur der Empfindungen für den Tonsetzer höchst nothwendig sey.

Man fordert von jedem Kunstwerke, daß es sowohl Mannigfaltigkeit, als auch Einheit enthalten soll. Um der ersten Forderung Genüge zu leisten, muß der Tonsetzer bey der Ausführung eines Tonstücks dahin sehen, daß er die in der Anlage enthaltenen wesentlichen Theile in verschiedene Wendungen bringe; er muß sie bald zergliedert, bald mit schicklichen Nebengedanken vermischt, und zwar in verschiedenen Perioden und in verschiedenen mit der Haupttonart verwandten Tönen dergestalt einkleiden, daß eine hinlängliche Mannigfaltigkeit und Abwechslung in der Folge der Haupt- und Nebengedanken dadurch hervorgebracht wird. Gesetzt, man wollte in der zweyten Hauptperiode eines Tonstückes die Haupt- und Nebengedanken wieder in eben der Ordnung zum Vorscheine bringen, in welcher sie in der vorhergehenden Periode schon dargestellet worden waren, so würde dieses der Mannigfaltigkeit gerade entgegen seyn. Die Periode würde, anstatt ihre eigenthümliche Darstellungsart der wesentlichen Theile des Ganzen zu enthalten, weiter nichts als eine <190> Wiederholung des vorhergehenden in einer andern Tonart darstellen, und dieses Verfahren würde verursachen, daß sich die auszudrückende Empfindung nicht in mehrern Modifikationen zeigen kann.

Es ist nicht genug, daß ein Tonstück diese oder jene Empfindung erwecke, nicht genug, daß gleichsam der Nerve dieser Empfindung nur gerührt werde, sondern diese Rührung muß anhaltend, und zwar in verschiedener Stärke und Schwäche anhaltend seyn, das ist, die Empfindung muß in verschiedenen Modifikationen dargestellet werden; und dieses ist ja eben das eigentliche Geschäfte der Ausführung und der Endzweck derselben. Auf einer und eben derselben Stufe, der Stärke und Schwäche verweilend, läßt sich die Fortdauer einer erweckten Empfindung nicht denken, denn sie ist ihrer Natur nach eine beständige Ebbe und Fluth, die von der Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit ihrer Modifikationen hervorgebracht wird.

Sollen die durch Töne erweckten Empfindungen fortdauern, so müssen sie ununterbrochen neue Rührung erhalten. Es muß ein solcher Zufluß der Ideen vorhanden seyn, der z.B. die angenehmen Empfindungen immer in einem neuen Reize darstellet, u.s.w. Und dieses kann durch weiter nichts erhalten werden, als dadurch, daß die in der Anlage des Tonstücks erfundenen Hauptgedanken desselben, welche eigentlich den Ausdruck der Empfindung enthalten, bey der Ausführung immer in einer neuen Wendung zum Vorscheine gebracht werden; und dieses ist es, was man die Mannigfaltigkeit eines Tonstücks nennt.

Allein die Mannigfaltigkeit hat auch ihre Abwege, und besonders müssen sich angehende Tonsetzer hüten, sich von diesem Erfordernisse der Tonstücke einen falschen Begriff zu machen. Man darf nicht glauben, als komme es dabey auf die Zusammenraffung vieler Gedanken an; nicht die Vielheit der Haupttheile, nicht die Vielheit der in denselben enthaltenen Figuren der Noten machen die Mannigfaltigkeit eines Tonstücks aus. Nein! wenige Hauptgedanken, in denen überdies noch die Figuren der Noten <191> einander ähnlich sind, können, wenn sie in genugsam verschiedene Wendungen gebracht worden sind, die zur Unterhaltung der Empfindung nöthige Mannigfaltigkeit des Tonstückes enthalten; denn es kommt hierbey nicht sowohl auf die Menge der Theile, als vielmehr darauf an, daß sie in einer mehrmals abgeänderten Verbindung zum Vorscheine kommen. Der mit Genie und Geschmack arbeitende Tonsetzer weiß die wenigen Hauptgedanken seines Satzes durch mehrere diesen untergeordnete, und genau damit zusammenhängende Gedanken so zu verbinden, daß die Empfindung immer neue Nahrung zu ihrer Fortdauer bekömmt. Es ist daher bey der Darstellung der Mannigfaltigkeit eine gewisse Behutsamkeit, vorzüglich aber ein gut gebildeter Geschmack nöthig, damit sich im Feuer der Arbeit bey der Ausführung eines Tonstücks keine solchen Nebengedanken einschleichen, die unter den vorhandenen Umständen nicht schicklich mit den Haupttheilen des Satzes in Verbindung gebracht werden können. Denn nicht nur die Hauptgedanken, welche die Anlage des Tonstücks enthält, sondern auch die damit in Verbindung gebrachten Nebengedanken, müssen so beschaffen seyn, daß sie unter einander verbunden ein schönen Ganzes ausmachen, bey welchem jeder Theil nicht allein der Absicht des Ganzen entspricht, sondern auch in Ansehung der Folge und Verbindung keinen Widerspruch enthält. Es dürfen keine Theile vorhanden seyn, die uns von der Vorstellung der Hauptsache, oder von der zu unterhaltenden Empfindung abführen. Alle Haupttheile müssen einen und eben denselben Zweck haben, und die damit in Verbindung gebrachten Nebengedanken müssen nur deswegen vorhanden seyn, jene aus einem immer neuen Gesichtspunkte darzustellen; dieses erfordert die Einheit als die zweyte der oben genannten Eigenschaften eines Tonstücks. Denn sobald uns Gedanken zum Gehöre kommen, die mit der auszudrückenden Empfindung nicht in der nächsten Verbindung stehen, die nicht so beschaffen sind, daß sie uns immer <192> wieder auf die Hauptgedanken zurück führen, so wird die Vorstellung auf solche Ideen geleitet, die mit der vorhandenen Empfindung nichts gemein haben, und die Empfindung selbst, anstatt auf eine angenehme Art unterhalten zu werden, wird entweder zu sehr geschwächt, oder sinkt gar unvermerkt in ihren Schlummer zurück.

Nun haben wir den Ausdruck Ausführung noch in seiner zweyten Bedeutung zu betrachten. In diesem Falle, wo von der Darstellung der Tonstücke vermittelst der Gesangorgane, oder vermittelst der Instrumente die Rede ist, pflegt man, wie schon oben erinnert worden ist, sowohl den Vortrag jeder einzelnen Stimme, als auch den gemeinschaftlichen Vortrag aller zu einem Tonstücke gehörigen Stimmen damit zu bezeichnen. Die Ausführung jeder einzelnen Stimme erfordert, daß ihr Inhalt Note vor Note mit reiner und deutlicher Intonation, ohne Vermischung der Töne, mit der strengsten Taktfestigkeit, leicht und rund herausgebracht werde. Wird diese mechanische Fertigkeit so angewendet, daß sie dem Charakter des Tonstücks, und der Absicht des Tonsetzers vollkommen entspricht, so nennet man sie insbesondere guten Vortrag.

Die Ausführung eines ganzen Tonstücks, wo alle in demselben vorhandene Stimmen vereinigt, die Absicht der Kunst, und den besondern Zweck des Componisten erreichen sollen, erfordert nicht allein die nöthige mechanische Fertigkeit eines jeden Ausführers insbesondere, nicht allein die Anwendung dieser Fertigkeit dem Charakter des Tonstücks, und den in jeder Stimme enthaltenen Vorschriften des Componisten, gemäß, sondern zugleich auch die Beobachtung aller derjenigen besondern Erfordernisse, wodurch der gute Vortrag aller einzelnen Ausführer zum allgemeinen guten Vortrage des ganzen Tonstücks befördert wird, und die Vermeidung alles dessen, was der guten Wirkung des Ganzen nachtheilig ist.

Soll sich die Tonkunst in ihrem vollen Glanze, in ihrer möglichsten Vollkommenheit zeigen, soll die Absicht des Tonsetzers erreicht, und die <193> Erwartung der Zuhörer befriediget werden, so muß man auf die Ausführung der Tonstücke alle mögliche Sorgfalt wenden. Die gute Ausführung hängt von vielen zusammentreffenden Umständen, von vielen Nuancen ab, die alle bald mehr, bald weniger zur Vervollkommung des Ganzen beytragen, und die nothwendig alle beobachtet werden müssen, wenn eine gute Ausführung der Tonstücke statt finden soll. Nächst den schon vorhin angezeigten Eigenschaften, die von jedem, der bey der Ausführung der Tonstücke diese oder jene Stimme vortragen will, gefordert werden müssen, hängt die gute Ausführung noch von folgenden Stücken ab:

  1. von der Stellung der zu einem Tonstücke gehörigen Stimmen;
  2. von der proportionirlichen Besetzung der Stimmen;
  3. von der reinen Einstimmung der Instrumente;
  4. von der Direktion des Anführers, und
  5. von der Beobachtung aller derjenigen Pflichten, welche jedem Ausführer insbesondere bey der gemeinschaftlichen Ausführung eines Tonstückes obliegen.1

Weil in der Folge von diesen Gegenständen in besondern Artikeln gehandelt wird, so bleibt hier nichts besonders darüber zu bemerken übrig.

Fußnoten:

Fußnote 1 (Sp. 193/194):

Auch die Beschaffenheit des Ortes, wo die Ausführung geschieht, trägt sehr viel zu ihrer bessern oder schlechtern Wirkung bey; weil aber diese ein Gegenstand, der nicht unmittelbar den Künstler betrifft, so ist er oben übergangen worden.

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