Mattheson: Der vollkommene Capellmeister

Teil 1, Kap. 3

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3. Vom Klange an sich selbst, und von der musicalischen Natur=Lehre. [§. 1-89]

<9> §. 1. In den meisten Büchern, welche von der Ton=Kunst handlen, wird ein grosses Wesen gemacht von Zahlen, Massen und Gewichten; vom Klange aber, und von dem sehr beträchtlichen physiologischen Theil dieser Wissenschafft sagt man fast kein Wort, sondern fährt so geschwind darüber hin, als wenn er wenig oder nichts zu bedeuten hätte.

§. 2. Da nun solches Verfahren ein gantz verkehrtes Wesen ist, indem der Klang der eintzige Unterwurff (subjectum) der Music bleibet, so wie das Gehör derselben Gegenstand (objectum); die Zahlen hergegen und was ihnen anhängig, nur in der Harmonicalischen Meßkunst blosse Handlanger und Nothhelffer abgeben, mit deren Beistand wir die äusserliche Beschaffenheit und Grösse der Intervallen einigermaassen betrachten und begreiffen können.

[...]

<15> §. 51. Die Lehre von den Temperamenten und Neigungen [...] leisten hier sehr gute Dienste, indem man daraus lernet, die Gemüther der Zuhörer, und die klingenden Kräffte, wie sie an jenen wircken, wol zu unterscheiden.

[...]

<16> §. 55. Die Natur=Kündiger wissen zu sagen, wie es mit unsern Gemüths=Bewegungen eigentlich und so zu reden cörperlich zugehe, und es ist einem Componisten ein grosser Vortheil, wenn er auch darin nicht unerfahren ist.

§. 56. Da z.E. die Freude durch Ausbreitung unsrer Lebens=Geister empfunden wird, so folget vernünfftiger und natürlicher Weisse, daß ich diesen Affect am besten durch weite und erweiterte Intervalle ausdrücken könne.

§. 57. Weiß man hergegen, daß die Traurigkeit eine Zusammenziehung solcher subtilen Theile unsers Leibes ist, so stehet leicht zu ermessen, daß sich zu dieser Leidenschafft die engen und engesten Klang=Stuffen am füglichsten schicken.

§. 58. Wenn wir ferner erwegen, daß die Liebe eigentlich eine Zerstreuung der Geister zum Grunde hat, so werden wir uns billig in der Setz=Kunst darnach richten, und mit gleichförmigen Verhältnissen der Klänge (intervallis n. diffusus & luxuriantibus) zu Wercke gehen.

§. 59. Die Hoffnung ist eine Erhebung des Gemüths oder der Geister; die Verzweiflung aber ein gäntzlicher Niedersturz derselben: welches lauter Dinge sind, die sich mit den Klängen, wenn zumahl die übrigen Umstände (absonderlich die Zeitmaasse) das ihrige mit beitragen, sehr natürlich vorstellen lassen. Und auf solche Art kan man sich von allen Regungen einen sinnlichen Begriff machen, und seine Erfindungen darauf richten.

§. 60. Alle und iede Gemüths=Bewegungen her zu zehlen dürffte freilich zu langweilig fallen; nur die vornehmsten derselben müssen wir unberühret nicht lassen. Da ist nun die Liebe wol billig unter allen oben an zu setzen; wie sie denn auch in musicalischen Sachen einen weit grössern Raum einnimt, als die andern Leidenschafften.

§. 61. Hiebey kömt es nun hauptsächlich darauf an, daß ein Componist genau unterscheide, welchen Grad, welche Art oder Gattung der Liebe er vor sich findet, oder zu seinem Unterwurff erwehlet. Denn die oberwehnte Zerstreuung der Geister, daraus diese Gemüths=Neigung überhaupt und vornehmlich entstehet, kan sich auf sehr verschiedene Weise begeben, und alle Liebe kan unmöglich auf einerley Fuß behandelt werden.

§. 62. Ein Verfasser verliebter Sätze muß seine eigene Erfahrung, sie sey gegenwärtig oder verflossen, allerdings hiebey zu Rathe ziehen, so wird er an sich, und an seinem Affect selber, das beste Muster antreffen, darnach er seine Ausdrücken in den Klängen einrichten könne. Hat er aber von sothaner edlen Leidenschafft keine persönliche Empfindung, oder kein rechtes lebhaftes Gefühl, so gebe er sich ja nicht damit ab: denn es wird ihm eher in allen andern Dingen glücken, als in dieser gar zu zärtlichen Neigung.

§. 63. Ein possierliches Liebes=Exempel, samt der dazu bequem vermeinten Erfindung, gab uns ehemahls der berühmte Heinichen, in der Vorrede der ersten Auflage seiner Anweisung zum General=Baß p. 13. alwo auch einiger wenigen locorum topicorum Erwehnung geschah, und über die Worte: Bella Donna che non fa? fünfferley Erfindungen an die Hand gegeben wurden. Die Ubersetzung: Was thut ein schönes Frauenzimmer nicht, ist Wortrichtig, doch nicht Verstandmässig, indem der Sinn hier eigentlich auf die Krafft der Schönheit gehet, als wollte man sagen: Sie vermag alles. Und nach solcher Auslegung würde der Satz eben so gar unfruchtbar nicht seyn, wie man meinet; sondern wir würden das herrschende Wesen der Schönheit zum Haupt=Zweck haben: die reitzende Blicke hergegen als Mittel= u. neben=Dinge zu betrachten finden.

§. 64. In der neuern und sehr angewachsenen Auflage obbelobten Wercks, unter dem Titel: General=Baß in der Composition, sind andre Beispiele, welche mehr, als 8. Bogen in der Vorrede betragen, beigebracht, und zwar (wie die Worte daselbst lauten) in etlichen seichten Texten und truckenen Arien, um auch dadurch den Reichthum musicalischer Erfindungen, nach der Natur=Lehre des Klanges, zu zeigen, nicht nur in rasenden, zanckenden, prächtigen, <17> ängstlichen, spielenden, streitenden; sondern ebenfalls in vereinigten, glücklichen, flüchtigen, leidbringenden, verliebten, feurigen, lechzenden, seufzenden, tändelnden und so gar schattenreichen Umständen, welche des Lesens wol werth sind.

§. 65. Die Begierde läßt sich zwar von der Liebe nicht trennen, ist aber von derselben darin unterschieden, daß diese auf das gegenwärtige, jene hergegen auf das künfftige siehet, und an sich selbst bisweilen mehr Hefftigkeit und Ungedult heget. Alle Sehnsucht, alles Verlangen, Wünschen, Trachten und Begehren, es sey gemässiget oder ungestüm, gehöret hieher, und nach deren mannichfältigen Beschaffenheit, so wol als in Ansehung der natürlichen Eigenschafft dessen, so man verlanget und wünschet, muß auch die Erfindung und Zusammenfügung der Klänge geordnet werden.

§. 66. Die Traurigkeit besitzet kein geringes im Lande der Affecten. In geistlichen Sachen, wo diese Leidenschafft am heilsamsten und beweglichsten ist, gehöret ihr alles zu, was Reu und Leid, Busse, Zerknirschung, Klage und Erkenntniß unsers Elendes in sich hält. Bey solchen Umständen ist denn Trauren besser, als Lachen. (Eccles. 7.) Sonst gibt ein bereits angeführter Schrifftsteller [FN] eine artige Ursache, warum die meisten Menschen lieber traurige, als freudige Music hören, nehmlich: weil fast iedermann misvergnügt ist.

§. 67. In zeitlichen, da die Traurigkeit zwar nichts nutzet, gibt es dennoch unendliche Gelegenheit zu dieser tödlichen Gemüths=Bewegung, auch verschiedene Stuffen und Mischung derselben, wie bey allen andern, deren iede nach ihrem Maaß, durch die vielfältige Zusammenziehung der Klänge und Intervalle, zu besondern Erfindungen und Ausdrückungen Anlaß geben kan.

§. 68. Nächst der Liebe muß einer, der die Traurigkeit im Klange wol vorstellen will, selbige vielmehr, als die übrigen Leidenschafften, fühlen und empfinden; sonst werden alle so genannte loci topici (örtliche Stellen der Rede=Kunst) in den Brunnen fallen. Die Ursache ist, daß traurig seyn und verliebt seyn zwey gantz nahe mit einander verwandte Dinge [FN: ...] sind.

§. 69. Zwar müssen auch die andern Gemüths=Bewegungen, wenn sie natürlich vorgestellet werden sollen, grössesten Theils von dem Verfasser nachdrücklich empfunden werden; allein, weil diese zeitliche Traurigkeit dem Zweck der menschlichen Erhaltung höchst zuwieder läufft, indem die Traurigkeit der Welt den Tod wircket; Sorge im Hertzen kräncket; wenns Hertz bekümmert ist, auch der Muth fällt; ein betrübter Muth das Gebeine vertrocknet; die Traurigkeit viele Leute tödtet; die Kräffte schwächet [FN: ...] &. obgleich der Mensch offtermahls seine unlustige Lust daran zu finden denckt: so braucht es freilich mehr Zwanges damit, wenn man sich derselben Neigung theilhafftig machen soll, und sie doch in der That eben nicht bey sich verspüret.

§. 70. Die Freude hergegen ist viel natürlicher, als die Traurigkeit: und eben deswegen, weil sie eine solche Freundin des Lebens und der Gesundheit ist, bequemet sich das Gemüth vielleichter zu ihrer Vorstellung und Annahm. Dennoch thut ihr Misbrauch bey ruchlosen Leuten unersetzlichen Schaden.

§. 71. Den grössesten Nutzen einer recht freudigen Music sollen wir billig (doch ohne Ausschliessung erlaubter Ergetzlichkeiten) im Lobe GOttes und im stets=frolockenden Dancken für seine umbegreifliche und unzehliche Wolthaten suchen. Wir haben dazu täglich ja stündlich hohe Ursachen und reiche Materie oder Gelegenheit, diese Ausbreitung unsrer Nerven=Geister und Anspannung der Zäser zu bewerckstelligen; mögen dannenhero das freudige Singen und Klingen in der Kirche oder in den Häusern zu GOttes Ehren und Preise (wenn es mit geziemender Bescheidenheit vergesellschafftet ist) allen andern vorziehen, und, nach den apostolischen [FN: ...] Worten, allezeit frölich seyn, uns allewege in dem Herrn freuen, und abermahl freuen. GOtt will gar <18> keine traurige Opfer [FN: ...] haben, und weiß seinem Volcke die Fröligkeit [FN: ...] nicht genug anzurühmen.

§. 72. Der Stolz, der Hochmuth, die Hoffart u.d.g. pflegen auch mit eigenen Farben in Noten und Klängen abgemahlet oder ausgedruckt zu werden, wobey sich der Verfasser meistentheils auf ein kühnes, aufgeblasenes Wesen beziehet. Man bekömt dadurch Gelegenheit, allerhand prächtig klingende Figuren anzubringen, die eine besondre Ernsthafftigkeit und hochtrabende Bewegung erfordern; niemahls aber viel flüchtiges und fallendes zulassen, sondern immer steigen wollen.

§. 73. Das Gegenspiel dieser Gemüths=Neigungen ist in der Demuth, Geduld, etc. welche man mit einer erniedrigenden Art im Klange behandeln, und ja nichts erhebendes dabey einschalten muß. Doch kommen die letzterwehnten Leidenschafften darin mit dem vorigen überein, daß sie eben so wenig scherzendes und tändelndes vergönnen, als der Hochmuth selbst.

§. 74. Eine eigene Stelle unter den zur Klang=Rede bequemen, und zu Erfindungen behülfflichen Affecten verdienet die Hartnäckigkeit, welche man durch verschiedene so genannte capricci, oder seltsame Einfälle schön vorstellen kan, wenn nehml. in der einen oder andern Stimme solche eigensinnige Klang=Gänge angebracht werden, die man sich fest vornimt nicht zu ändern, es koste auch was es wolle. Bey den Welschen ist eine Art des contrapuncts bekannt, welchen sie perfidia nennen, und der gewisser maassen hierher gehöret. [...]

§. 75. Was den Zorn, den Eifer, die Rache, die Wut, den Grimm, und alle denselben anverwandte gewaltige Bewegungen des Gemüths betrifft, so sind sie wirklich viel geschickter allerley Erfindungen in der Tonkunst an die Hand zu geben, als die sanfftmüthigen und angenehmen Leidenschafften, welche weit feiner behabndelt seyn wollen. Doch ist es auch eben nicht genug, wenn man bey jenen nur tüchtig hineinrumpelt, grobern Lerm macht und tapffer raset: es will hier nicht bloß mit viel geschwäntzten Klang=Zeichen ausgerichtet seyn, wie mancher denckt; sondern eine iede dieser herben Eigenschafften erfordert ihre besondere Weise, und will, des starcken Ausdrucks ungeachtet, doch mit einer geziemend singenden Art versehen seyn: wie solches unser allgemeiner Grund=Satz, den wir nie aus den Augen lassen müssen, ausdrücklich erfordert.

§. 76. Mit der lieben Eifersucht hat sowol die Klang= als Dicht=Kunst immer sehr viel zu thun: und weil diese Gemüths=Verstellung wol aus sieben andern Leidenschafften zusammen gesetzet ist, unter welchen doch die brennende Liebe obenanstehet, Mistrauen, Begierde, Rache, Traurigkeit, Furcht und Schaam aber nebenher gehen; so kan man leicht gedencken, daß häuffige Erfindungen in der Ton=Ordnung daraus hergeleitet werden können, welche gleichwol alle, der Natur nach, auf etwas unruhiges, verdrießliches, grimmiges und klägliches ihre endliche Absichten richten müssen.

§. 77. Die Hoffnung ist eine angenehme und schmeichelnde Sache: sie besteht aus einem freudigen Verlangen, welches mit einer gewissen Hertzhafftigkeit das Gemüth einnimt. Daher denn dieser Affect die lieblichste Führung der Stimme und süsseste Klang=Mischung von der Welt erheischet, denen das muthige Verlangen gleichsam zum Sporn dienet; doch so, daß obgleich die Freude nur mäßig ist, die Hertzhafftigkeit doch alles belebet und ermuntert, welches die beste Fügung und Vereinigung der Klänge in der Setz=Kunst abgibt.

§. 78. Was der Hoffnung gewisser maassen entgegen zu stellen ist, und folglich zur wiedrigen Einrichtung der Klänge Anlaß gibt, nennet man Furcht, Kleinmüthigkeit, verzagtes Wesen. etc. Hieher gehöret auch das Schrecken und Entsetzen, welche, dafern man sie recht einnimt und sich starcke Sinnbilder von ihrer natürlichen Eigenschafft macht, gar bequeme und mit dem Zustande der Gemüths=Bewegungen, übereinkommende Klang=Gänge hervorlocken.

<19> §. 79. Denn das musicalische Geschäffte, ob es gleich zu seinem Zwecke hauptsächlich die Anmuth und das Wolgefallen haben sollte; dienet doch auch bisweilen mit seinen Dissonantzen, oder hartlautenden Sätzen, in gewisser Maasse und mit den dazu geschickten klingenden Werckzeugen, nicht nur etwas wiedriges und unangenehmes, sondern gar etwas fürchterliches und entsetzliches vorzustellen: als woran das Gemüth auch bisweilen eine eigene Art der Behäglichkeit findet.

§. 80. Die Verzweiflung, gleichwie sie der äusserste Grad und Rand ist, dahin uns die grausame Furcht bringen kan, so stehet leicht zu ermessen, daß uns diese Leidenschafft in unsern Klängen, um sie natürlich auszudrücken, auf sonderbare Extremitäten von allerley Gattung, ja auf das äusserste leiten, und daher zu ungemeinen Fällen und seltsamen ungereimten tollen Ton=Fügungen bringen kan.

[...]

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