Türk: Klavierschule

Kap. 6, Abs. 5 (a)

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5. Abschnitt. Von der Nothwendigkeit des eigenen richtigen Gefühls für alle in der Musik auszudruckende Empfindungen und Leidenschaften.

(a) Von der Nothwendigkeit des eigenen Gefühls. [§. 60-68]

<369> §. 60. Das letzte und unentbehrliche Erforderniß zum guten Vortrage, (wovon schon §. 26. vorläufig geredet wurde,) ist ohne Zweifel eigenes richtiges Gefühl für alle in der Musik auszudruckende Leidenschaften und Empfindungen. Wer dieses Gefühl gar nicht, oder nur in einem sehr kleinen Grade hat, für den sind die gegebenen Winke größtentheils unbrauchbar. Eine mündliche Anweisung würde bey solchen Personen wenigstens etwas mehr fruchten, als der beste schriftliche Unterricht; obgleich auch der emsigste und gewissenhafteste Lehrer dem von Natur gefühllosen Lernenden schwerlich einen wirklich guten Vortrag beybringen wird.

§. 61. [...]

<370> §. 62. Andere haben nur für gewisse Empfindungen Gefühl. Sie werden z.B. durch ein Tonstück von munterm Charakter zur Fröhlichkeit gestimmt, da hingegen ein ADAGIO mesto auf sie nicht gehörig wirkt. Daher kommt es auch unter andern, daß Einige nur das ALLEGRO, Andere blos das ADAGIO gut spielen. Obgleich dieses einseitige Gefühl besser ist, als gar keines, so bleibt es doch immer unvollkommen. Denn der wahre Tonkünstler muß sich in jeden Affekt versetzen können, oder für alle in der Musik auszudruckende Leidenschaften und Empfindungen Gefühl haben, weil er nicht immer muntere oder scherzhafte, sondern oft in Einer Stunde ganz entgegen gesetzte Empfindungen auszudrucken hat. Indeß wird es freylich niemand dahin bringen, daß er zu jeder Zeit und unter allen Umständen gleich gut spiele, da die Stimmung des Gemüthes einen sehr merklichen Einfluß auf den Vortrag hat.

§. 63. Wenn der Komponist den erforderlichen Ausdruck, so gut sichs thun läßt, im ganzen und bey einzelnen Stellen bestimmt, der Spieler aber alle in den vorhergehenden Abschnitten erwähnte Mittel gehörig angewandt hat: so bleiben immer noch besondere Fälle übrig, in welchen der Ausdruck durch außerordentliche Mittel ehöhet werden kann. Ich rechne hier vorzüglich

  1. das Spielen ohne Takt,
  2. das Eilen und Zögern,
  3. das so genannte TEMPO RUBATO.

Drey Mittel, welche selten und und zur rechten Zeit angewandt von großer Wirkung seyn können.

§. 64. Mehr nach Gefühl, als taktmäßig, müssen, außer den freyen Fantasien, Kadenzen, Fermaten &c. unter andern auch die mit dem Worte Recitativo bezeichneten Stellen vorgetragen werden. Man findet hin und wieder in Sonaten, Konzerten u. dgl. einzelne Stellen von dieser Art, z.B. in dem ANDANTE der <371> ersten Sonate dem König von Preußen gewidmet von C.P.E. Bach. Solche Stellen würden eine schlechte Wirkung thun, wenn man sie genau nach der bestimmten Geltung der Noten (taktmäßig) spielte. Die wichtigsten Noten müssen daher langsam und stärker, die weniger wichtigen aber geschwind und schwächer gespielt werden, ungefähr so, wie ein gefühlvoller Sänger diese Noten singen, oder ein guter Redner die Worte dazu deklamiren würde.

§. 65. [...]

§. 66. In Tonstücken, deren Charakter Heftigkeit, Zorn, Wuth, Raserey u. dgl. ist, kann man die stärksten Stellen etwas beschleunigt (ACCELERANDO) vortragen. Auch einzelne Gedanken, welche verstärkt (gemeiniglich höher) wiederholt werden, erfordern gewissermaßen, daß man sie auch in Ansehung der Geschwindigkeit zunehmen lasse. Wenn zuweilen sanfte Empfindungen durch eine lebhafte Stelle unterbrochen werden, so kann man die Letztere etwas eilend spielen. [FN] Auch bey einem Gedanken, durch welchen unerwartet ein heftiger Affekt erregt werden soll, findet das Eilen statt.

§. 67. Bey außerordentlich zärtlichen, schmachtenden, traurigen Stellen, worin die Empfindung gleichsam auf Einen Punkt zusammen gedrängt ist, kann die Wirkung durch ein zunehmendes Zögern (Anhalten, TARDANDO,) ungemein verstärkt werden. Auch bey den Tönen vor gewissen Fermaten ( S. 304 ) nimmt man die Bewegung nach und nach ein wenig langsamer, gleich als würden die Kräfte allmählich erschöpft. Die Stellen, welche gegen das Ende eines Tonstückes (oder Theiles) mit DIMINUENDO, DILUENDO, SMORZANDO u. dgl. bezeichnet sind, können ebenfalls ein wenig verweilend gespielt werden.

<372> §. 68. Eine zärtlich rührende Stelle zwischen zwey lebhaften, feurigen Gedanken, (wie im ersten Theile meiner leichten Klaviersonaten S. 10. 11. 25ff.) kann etwas zögernd ausgeführt werden; nur nimmt man in diesem Falle die Bewegung nicht nach und nach, sondern sogleich ein wenig (aber nur ein wenig) langsamer. Besonders ereignet sich eine schickliche Gelegenheit zum Zögern in Tonstücken, worin zwey Charaktere von entgegen gesetzter Art dargestellt werden. So hat Bach eine vortreffliche Sonate geschrieben, "welche gleichsam ein Gespräche zwischen einem Melancholicus und Sanguineus unterhält." [FN] Auf ähnliche Art schildert E.W. Wolf in den sechs kleinen Sonaten v. J. 1779. Seite 10 ff. das entzweyte Ehepaar gemeiner Leute. - Ueberhaupt kann das Zögern bey Stellen in langsamer Bewegung wohl am zweckmäßigsten statt finden.

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