Kinkel, Briefe

Kinkel: Acht Briefe über Klavierunterricht

1. Brief [Didaktische Hinweise für den Anfangsunterricht: Literaturauswahl, Kräftigung der Finger]

<1> Du forderst meinen Rath hinsichtlich des Clavierunterrichts Deiner Töchter. Ich ergreife mit Freuden diese Veranlassung, um manche Erfahrung, die ich in meinem Fache machte, aufzuzeichnen, damit sie vielleicht außer Dir noch einem weiteren Kreise zu Gute komme. Musiker von Profession belehren zu wollen, möchte ich mir nicht anmaßen; doch die Classe von talentvollen und tiefer gebildeten Clavierspielerinnen, zu denen ich auch Dich zähle, die bei aller eigenen Fertigkeit kaum im Stande sein würden, ein Kind <2> selbst zu unterrichten, werden mir vielleicht Dank wissen, wenn ich ihnen einige Winke zur Erlangung derjenigen Methode gebe, in der ich viele günstige Resultate erzielte. Mit Hülfe der vielen trefflichen Klavierschulen und Etüden, welche die bewährtesten Meister seit einigen Decennien herausgaben, kann zwar jeder musikalische Mensch, der etwas Geduld und klaren Begriff hat, ein ordentlicher Lehrer werden, doch bleibt es immer wünschenswerth, den Weg der eigenen Erfahrung etwas abgekürzt zu bekommen. Auch ist es sehr übel, wenn gleich Anfangs die Schüler einen Eindruck von Unsicherheit dadurch erhalten, daß man verschiedene Richtungen einzuschlagen sucht, die man bei fortgeschrittener Einsicht wieder verlassen muß.

Ich brauche Dir wohl nicht zu sagen, in welcher Ordnung man die Noten und Taktzeichen, überhaupt die Regeln des Clavierspielens nach und nach den Schülern beibringt. Du darfst nur eine anerkannte <3> Clavierschule zum Grunde legen, so hast Du einen Leitfaden für die ganze Dauer des Unterrichts. Die Clavierschule aber, die Du Dir erwählt hast, mußt Du consequent durchführen. Du magst immerhin, zur Ermunterung des Schülers, wenn er ermüdet, ein heiteres Lieblingsstückchen als zeitweilige Unterbrechung gestatten; aber Du mußt dann wieder zur Clavierschule zurückkehren. Sollte zufällig diejenige, deren Du Dich bedienst, nicht mit einer hinlänglichen Zahl Handstücken versehen sein, so erinnere Dich, daß davon ein vollständiges Heft, unter dem Titel "Exercices préparatoires" von Aloys Schmidt in jeder Musikalienhandlung zu finden ist.

Ich beschränke mich darauf, hinsichtlich des ersten Unterrichts diejenigen Punkte hervorzuheben, die, obgleich von größter Wichtigkeit, am häufigsten durch Nichtbeachtung versäumt werden.

Hier steht obenan: richtiges Aufheben der <4> Finger und die Beobachtung des grammatischen Accents.

Beide sind so leichte, sich von selbst verstehende Regeln, daß man sich fast schämt, viele Worte davon zu machen. Da aber manche Spieler jahrelang ihre Zeit mit vergeblichem Lernen verdorben haben und alle Schritte zurück und noch einmal thun müssen, bloß weil sie diese ersten Stufen ungeduldig übersprungen haben, ist es nicht überflüssig, jeden angehenden Lehrer immer wieder von neuem darauf aufmerksam zu machen.

Es ist bei verwöhnten Schülerinnen sehr mißlich, mehr als Eine schlechte Manier auf Einmal bekämpfen zu wollen, den das beständige Unterbrechen und Tadeln von Seiten des Lehrers verwirrt und erbittert sie. Wende also Deine ganze Aufmerksamkeit zuvörderst auf den Mechanismus der Finger, welchen die allerleichtesten Handstücke verlangen, und bedenke, daß, <5> je strenger Du den Anfänger zur Erlernung derselben verpflichtest, um so eher Du ein blühenderes Feld mit ihm betrittst.

Ich weiß es: demjenigen, der zuerst in Musik unterrichtet, vergeht meist alle Freude am Lehren. Abwechselnd muß er Schülern, die vom früheren Lehrer verwahrlost wurden, die eingerostete Gewohnheit austreiben, ihre sämmtlichen Finger sozusagen auf die Claviatur festzukleben; oder er muß kleine Kinder unaufhörlich warnen, daß sie die Finger nicht zu flach halten. Er fragt sich voll Ungeduld, ob es in der Welt ein nichtigeres und langweiligeres Amt geben könne. Er hat vielleicht tief in die Seele der Musik geschaut, und soll nun seine geliebte Kunst als die äußerliche Geschicklichkeit, auf einem Instrumente etwas zu spielen, seinen Schülern beibringen, anstatt sie musikalisch denken, empfinden zu lehren. Er möchte gerne der Magnet sein, der allen musikalischen Inhalt <6> seiner Umgebung ans Licht zauberte, und einen Boden des Verständnisses für die Werke der unsterblichen Meister bereiten, die für Jeden todt sind, der die Musik als ein gedankenloses Spielzeug betreibt.

Dieser Mißmuth des Lehrers, dessen erster Eifer an den steifen Fingern und dem langsamen Begriff des Anfängers abgeprallt ist, theilt sich diesem sehr bald mit. Die Finger der Kinder besonders entbehren noch der nöthigen Muskelkraft, um nach jedem Ton elastisch aufzuspringen. Das beständige Mahnen: Finger auf! ist ihnen widerwärtig, und wenn gar der Widerwille des Lehrers gegen den handwerksmäßigen Theil seines Berufes permanent wird und sich in einem finstern, ungeduldigen Tone gegen seine Zöglinge entladet, so zerstört er in ihnen oft den Keim künftiger guten Leistungen.

Die Aufgabe des Lehrers für die erste Stufe: den Mechanismus der Finger auszubilden, ist eben eine <7> Arbeit wie ein anderes Handwerk, bei dem er nicht lässig auf Nebenunterhaltung sinnen darf. Mit demselben Interesse hat er das Leichterwerden der Finger zu beobachten, wie etwa der Drechsler oder Metallarbeiter das Polieren seines Stoffs.

Wer keine Geduld und Freude auch bei den kleinsten Erfolgen seines Wirkens hat, der hat kein Lehrertalent.

Versuche es nur und giebt Dich einmal mit voller ungetheilter Aufmerksamkeit der allergeringsten Aufgabe hin, ein Kind eine Tonleiter vollkommen gleichmäßig spielen zu lehren. Die Lebhaftigkeit Deines Antheils, die Heiterkeit mit der Du beachtest: "jetzt waren noch zwei undeutliche Noten darin! jetzt nur noch eine! jetzt war sie ganz rein gespielt!" - geht auf das Kind mit über. Es wird selbst auf seinen Anschlag achten und mit Lust jedes Gelingen begrüßen. Ueberwindest Du in Dir selbst Trägheit und Langeweile, so reißest Du <8> zugleich den Schüler mit fort. Daß Du zwischen den trocknen Uebungen anwechselnd eine anmuthigere Composition zum Vergnügen des Lernenden einschaltest, ist nicht zu verwerfen, wenn Du die Wahl so triffst, daß sie das Stadium derselben zugleich fördert und nicht den Geschmack verdirbt. In den Etüden der neuern Componisten ist ohnehin das Wohlklingende hinreichend neben dem Nützlichen berücksichtigt, und haben die Schüler erst diese Stufe erreicht, so dürfen sie nicht mehr über Mangel an Unterhaltung beim Ueben klagen.

Es ist entschieden verderblich, mit unruhiger Hast von einem Stück zum andern zu springen, ehe das vorige fertig einstudirt war. Die Schüler müssen von vornherein die vollendete Reinheit der Ausführung als eine Nothwendigkeit empfinden lernen, der man sich nicht zu entziehen hat..

Wenn Du bedenkst, daß eine kleine Unart in der Fingerhaltung, die Anfangs unwichtig scheint, später <9> einen freien geistvollen Vortrag unmöglich macht, so wirst Du nicht, gleich manchen Dilettanten, die mechanische Fertigkeit als eine Art Gegensatz zum seelenvollen Spiel betrachten. Sie muß als ein Mittel zum Zweck vorher da sein, ehe man dem Schüler das letztere zumuthen darf. Wie will ein Schüler, wenn er auch mit dem klarsten Verständniß begabt ist, die Schönheit in der Musik darstellen, wenn ihm seine Finger widerspenstig sind.

Wer sich dem Geschäft unterzieht, einen Anfänger zu bilden, der sei redlich gegen denselben und eile nicht über den prosaischen Theil seines Berufes hinweg, um auf Kosten des Schülers sich selber etwas besser dabei zu amüsieren.

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