Kinkel, Briefe

Kinkel: Acht Briefe über Klavierunterricht

8. Brief [Anmerkungen zur Klavierliteratur]

  1. [Sonatenhauptsatzform]
  2. [Virtuosenmusik der jüngeren Vergangenheit]
  3. [Felix Mendelssohn Bartholdy]
  4. [Frédéric Chopin, Emanzipation der Terz, Plädoyer für Mikrointervalle]
  5. [Sigismund Thalberg]
  6. [Adolf Henselt]
  7. [Ludwig van Beethoven]
[a. Sonatenhauptsatzform]

<64> In einem großartigen Tonstück scheinen die Tonarten in ihrem Kampfe mit einander gleich sich entwickelnden Naturkräften zum Lichte empor zu dringen, endlich Gestalten anzunehmen und ihr Stück Weltgeschichte mit zu erleben. Doch ergötzt uns auch schon im Kleinen die humoristische Intrigue, die in der gewöhnlichsten Sonate von der Familie der Tonarten in immer wechselnder Scene aufgeführt wird.

Da tritt zum Eingange der Dreiklang der Tonica gleich dem Hausherrn im vollen Gefühl seiner Würde <65> auf und beginnt ein Gespräch mit seiner Hausfrau Dominante, und ermahnt den Sohn Subdominant und die beiden Medianten, seine holden Töchter, zu allem Guten. Er geht auf Reisen und es gefällt der Frau Dominante, in seiner Abwesenheit auch einmal die Hosen anzuziehen, oder mit andern Worten, sich das Subsemitonium zu vindiciren, wodurch am Ende des ersten Abschnittes die Täuschung so vollkommen wird, daß jeder meint, jetzt sei die Dominante der Herr im Hause.

Aber die vermeintliche Tonica versteht es schlecht, sich in ihrer Herrschaft zu behaupten. Die Kinder rebelliren gleich zu Anfang des zweiten Teils: der Subdominant lädt keck seine befreundeten Nachbarn ein und kehrt mit ihnen im tollen Gelage das Haus um. Allerhand verbuhlte Septimenakkorde kommen von nah und fern und umschwärmen die Medianten. Die Dominante strebt vergebens, Ordnung zu stiften; <66> endlich mit lang aushaltendem Ruf mahnt sie den Vater zur Heimkehr. Wußte man im Mittelsatz nicht mehr, wer Herr noch wer Diener sei, so schwinden alle Zweifel, wenn der ächte Dreiklang der Tonica in seiner angestammten Legitimität das Haus wieder betritt. Alle die übrigen Dreiklänge scheinen nur Entschuldigungen wegen des Vorhergegangenen zu den Füßen ihres Herrschers zu legen, der ihnen freundlich vergiebt, sie auf die ihnen gebührenden Stufen zurückweist und in einem Schlußakkord, dem auch der Böswilligste nichts mehr entgegen zu setzen hat, seine thatenreiche Laufbahn glänzend beendet.

[b. Virtuosenmusik der jüngeren Vergangenheit]

Um einige Jahrzehnte hinter uns liegt eine Epoche der Claviercomposition, deren Vertreter ihre beste Kraft <67> an Nebendingen verschwendeten. Der Kern eines Musikstücks, oft von bedeutender Schönheit, war in einen Wust von arabeskenhaften Flitterpassagen eingehüllt, der wie ein Reifrock die natürliche Form entstellte. Ein Normal-Clavier-Concert jener Zeit dauert etwa drei Viertelstunden; es enthält, wenn man die üblichen Cantilenen-Stellen im ersten Teil, dem Adagio und Rondo zusammenzählt, fünf Melodien, jede etwa sechzehn Takte lang; alles Uebrige sind Läufe und Sprünge, wobei die Durchführung jener wenigen Melodien den begleitenden Instrumenten überlassen bleibt. Der größte Werth ward auf die Mannigfaltigkeit der schwierigen Kunststücke für die Finger gelegt, welche im raschesten Tempo ausgeführt werden mußten, auch wurden diese von den Zuhörern immer wieder mit rauschendem Applaus belohnt.

Die Virtuosen bildeten nun die Finger auf Kosten des Geistes aus, opferten ihrer Eitelkeit das künstlerische <68> Gewissen, und traten nur mit solchen Stücken öffentlich auf, deren Einstudiren auch dem Geübtesten viele Monate Lebenszeit kostete. Der Kunstfreund, wenn er auch ein augenblickliches Vergnügen beim Anhören eines solchen mit Anmuth und Geschicklichkeit vorgetragenen Stücks empfand, konnte sich nicht verhehlen, daß nichts wahrhaft Schönes durch dessen Schwierigkeiten erreicht wurde, daß sie vielmehr nur dazu da waren, das Publikum in ein dummes Erstaunen zu setzen.

Anders ist es nun geworden, wo das Schwere wenigstens einem höhern künstlerischen Zweck zu dienen strebt, obgleich der alte Mißbrauch noch nicht unbedingt abgethan ist. Die Mehrzahl der neuesten Claviercompositionen erfordert vor allem einen feinen und seelenvollen Vortrag; die mechanischen Schwierigkeiten sind so ziemlich in den Hintergrund gedrängt worden; auch wird der herrschende Gedanke darin nicht durch <69> ewige Wiederholungen und Variationen abgeschwächt: eher dürfte man ihnen eine zu gedrängte Kürze zum Vorwurf machen.

[c. Felix Mendelssohn Bartholdy]

Den ersten Anstoß hierzu hat Felix Mendelssohn durch seine allbeliebten Lieder ohne Worte gegeben; sie verhalten sich zu dem frühen Clavierconcert, wie das einfache Lied zur prätenziösen Bravourarie. Ihr Inhalt ist wie bei jenem der Seelenerguß, den eine fröhliche oder wehmütige Stimmung hervorruft, das Landschaftsbild, Jagd und Wasserfahrt und so weiter. Einige bestimmte Gattungen findet man, wenn auch im Gedanken und der Ausführung sehr verschieden, doch in verwandten Zügen in jedem Hefte wieder. So ist z.B. Nr. 1 jedesmal eine getragene Melodie <70> in sehr sanften Modulationen, über einer etwas bewegtern arpeggirten Begleitung schwebend, welche die leise Sehnsucht unausgesprochener Liebe, oder die holde Ruhe in der seligsten Erfüllung ausdrückt. Ein Lied der schmerzlichen Klage folgt, oder ein wildes Reiterlied, wo wir im dunkeln Wald den Sturm und den Regen brausen hören, der die Hufschläge des Rosses und den trotzigen Sang des einsamen Gesellen begleiten. Die leidenschaftlose Melodie religiöser Inbrunst oder stiller Ergebung in ein höheres Walten ist nicht minder unverkennbar in mehreren von diesen Liedern ausgedrückt. Es ist nicht eben Choral oder hergebrachter Kirchenstyl, aber die Heiligkeit und Würde der Akkorde und Rhythmen ist durch und durch von Gebethauch umflossen.

Das venetianische Gondellied ist einigemal in gleich gelungener Weise vertreten. Sehr fein hat Mendelssohn durch die Wahl der Tonarten und die Lage der Akkorde <71> den Zauber der Sternennacht heraufbeschworen. Wer nur die beiden ersten Takte beobachtet, der kann nicht mehr zweifeln, daß hier kein Bild des farbenhellen Tages sich aufrollen wird. Tiefer und tiefer umhüllen uns dunkle Schatten, ein eigner feuchter Schimmer entwickelt sich aus den Baßakkorden, als schauten wir hinab in das grüne Meer; nun kommen im ruhigen Takt die Ruderschläge, von einer wellenförmigen Begleitung umspielt, kleine abgestoßene Terzenklänge geben täuschend den Klang der Guitarre wieder, die den zweistimmigen melancholisch langgezogenen Gesang begleiten, der aus dem Innern der Gondel fernhin über die Lagune schallt.

Das Lied Nr. III im ersten Heft, in der heitern goldgrünen Tonart A-dur, führt der Phantasie ein Jagdgebilde in frischester Kraft und Anmuth vor. Hörnerklänge laden in den dunklen Forst, die Rosse im Galopp, die wallenden Federbüsche ritterlicher Gestalten <72>fliegen uns vorüber; die Harmonie malt ein Harren, Suchen, Hin- und Herirren, endlich das Auffinden der Spur. Nun jubelt alles auf; durch das Dickicht hindurch stürzen sie, wo die verschlungenen Zweige sich rauschend öffnen und schließen. Ein letztes Geraschel im Laub, ein fernes Verhallen, und wie ein aufwirbelndes Staubwölkchen schließt die zierlichste säuselnde Roulade, von wenigen Tönen gefolgt, ab, als sei Alles nur ein Traum gewesen.

Das Lied Nr. IV im zweiten Heft zeichnet das stille Wandeln neben einem plätschernden Bach. Die spielende Figur im Baß gleitet wie krystallklare Wellen über reinliche Kiesel dahin. Die Schlußpassage, die sich aus diesem Baß entwickelt und mit lieblichster Grazie aufsteigt, gleicht dem Abendwind, der im Fluge ein paar Apfelblüthen mit sich emporwirbelt und dem Wanderer auf den Pfad streut.

Auch ein Duett zwischen Baß un Oberstimme ist <73> diesen Liedern ohne Worte beigefügt, und wie sich versteht, ein zärtliches Duett. Es gilt für eine der schönsten Nummern der Sammlung, und gewiß mit Recht, wenn es auch, zufolge seiner bestimmt ausgeprägten Form, nicht so manche phantastische Deutung zuläßt, wie viele von den andern.

Ein anderes, welches den Charakter des Volksliedes trägt, wird vielfach von den Dilettanten gepriesen, hat aber für ein verfeinertes Gehör etwas Verletzendes durch die Verdoppelungen der Oktavengänge, welche allerdings den Volksgesang in seiner Eigenthümlichkeit wiederspiegeln.

Im fünften Hefte findet sich unter Nr. II eine Art Triumphgesang, der stark wie ein Freiheitslied klingt. Gut, daß für die deutsche Polizei die reine Tonsprache Sanskrit ist, sonst würde sie solch einen Rhythmus verbieten. Es ist ein kettenzermalmender Uebermuth darinnen, der den Hörer begeistert und <74> elektrisirt. Sollte wirklich der Drang der damaligen Zeit auch in das harmlose Clavier gefahren sein und sich dort einen Ausweg gesucht haben, als ihm das Wort versperrt war? Doch das ist ja die Magie der Tonkunst, daß jede Zeit das heraushört oder hineinhört, was ihr heißestes Bedürfniß ist.

[d. Frédéric Chopin, Emanzipation der Terz, Plädoyer für Mikrointervalle]

An der Reform der Claviermusik im Allgemeinen hat einen eben so großen Antheil als Mendelssohn, Friedrich Chopin, ein Pole von Geburt. Während Mendelssohns feiner Verstand, sein hochgebildeter Geschmack die Auswüchse der vorhergegangenen Periode hinweggetilgt oder zurechtgebogen, die Formen vereinfacht, den Inhalt vergeistigt, im Ganzen aber auf dem vorhandenen Boden fortgebaut hat, brach Chopins <75> Genialität bisher unbekannte Bahnen in die romantischen Dämmerungen der wunderbarsten Harmonien. Seine Musik steht neben der Mendelssohn'schen wie das Mährchen neben der Geschichte. Sie ist nicht so gesund, noch so wahrhaft und verständig, hat aber dafür all den schwülen Zauber, die ahnungsvollen Schauer des Mährchens.

Es wäre gar nicht unmöglich, auch einen Kenner, der zum erstenmal eine Mendelssohn'sche Melodie hörte, glauben zu machen, es sei eine von Mozart oder Beethoven, die er noch nicht kenne; so nah verwandt ist trotz aller Originalität Mendelssohn diesen seinen großen Vorbildern. Chopins Melodien hingegen sind unerhört, keine ähnliche ist vor ihnen erfunden worden. Daher kömmt es wohl, daß bei seinem ersten Auftreten fast alle Personen über vierzig Jahr ihn haßten und ihn ganz unfaßlich fanden, während die Jugend sich leidenschaftlich für ihn begeisterte.

<76> Fragen wir nun, was das ist, das uns bei Chopin so namenlos erschüttert, mit Grauen und Entzücken erfüllt, so findet sich eine Lösung, die Manchem erst recht wie eine Fabel erscheinen möchte: Chopin will die Vierteltöne erlösen, die jetzt nur wie gespenstige Doppelgänger schattenhaft zwischen den unharmonischen Verwechslungen auftauchen.

Um diese Ansicht zu rechtfertigen, müssen wir ein paar gute Schritte rückwärts in die Musikgeschichte blicken. In den frühesten Jahrhunderten christlicher Zeitrechnung, wo man nicht das Ohr, sondern die mathematische Berechnung entscheiden ließ, welche Intervalle wohl oder übel klingen müßten, schritten die mehrstimmigen Sätze in Quinten und Oktaven neben einander fort, denn Terzen galten für unerträgliche Dissonanzen. Also gerade das, was wir jetzt als die abscheulichste Harmoniefolge empfinden, galt damals als die einzig richtige. Das menschliche Ohr war noch nicht hinreichend <77> gebildet, um näher liegende Zusammenklänge zu unterscheiden. Die Quinte, allenfalls die Quarte lag ihm noch weit genug auseinander; wahrscheinlich aber machte die kleine Terz (diese schmeichlerische, wollüstige Lieblingin unsers Gehörs) damals denselben Eindruck, wie uns jetzt etwa die kleine Sekunde, oder die übermäßige Prime, C und Cis zusammen angeschlagen.

Denken wir uns nun die Vierteltöne mit in unser Intervallen-System aufgenommen, so würde die Sekunde vielleicht dasselbe für die Zukunft, was uns jetzt der Terz ist. Jeder, der in die Geschichte der Musik geblickt, wird sich der Revolution erinnern, welche die erste Terz, auf welcher der Absturz des alten und der ganze Bau unsers jetzigen musikalischen Systems gegründet ist, hervorrief. Welcher Zeiträume bedurfte es, bis sie als wohlklingend anerkannt war. Nun verdanken wir ihr die Reihenfolge der herrlichsten Harmonien, die seit Jahrhunderten, einander immer <78> überbietend, unsere Seele erfrischten. Aber manchmal will es scheinen, als sei nun doch der Quell beinahe ausgeschöpft; mehr und mehr klingen die neuern Melodien wie Nachahmungen oder oberflächliche Veränderungen der oft dagewesenen ältern, und da Ohr seufzt nach ganz Neuem, Unerhörtem.

Emancipirt die Vierteltöne, so habt ihr eine neue Tonwelt!

Aber uns, die wir an die längst bestandene Eintheilung in halbe Töne gewöhnt sind, wird die Neuerung schauerlich und wie ein bloßes Geräusch von Dissonanzen klingen; doch vielleicht schon begrüßt die nächst- oder drittfolgende Generation, wenn sie erst mit der Muttermilch die fremden Klänge eingesogen hat, in ihnen eine frischerstandene, doppelt reichte Kunst.

An dieser mysteriösen Pforte scheint Chopin zu rütteln; seine Melodien schleichen widerstrebend durch <79> die halben Töne, als tasteten sie nach feinern, vergeistigtern Nüancen, als die vorhandenen feinen Intentionen bieten. Ist einmal diese Pforte gesprengt, so sind wir abermals um einen Schritt näher den ewigen Naturlauten; denn warum können wir die Aeolsharfe, das Waldesrauschen, die zauberischen Laute des Wassers nicht treu in Töne fassen, nur schwach nachahmen, weil unsere sogenannten ganzen und halben Töne zu plump und lückenhaft auseinander liegen, während die Natur nicht bloß Viertel- und Achteltöne, sondern die unendliche, kaum in Klang-Atome zersetzte Skala besitzt!

Es ist, als ob ein Chopin'sches Notturno darnach ringe, die Stimmung hervorzurufen, die uns in tiefster, einsamster Mitternacht umweht, wenn wir auf einer hohen freien Stelle horchend stehen, und alle die flüsternden Laute wach werden, die sonst das Tagesgeräusch übertönt. Da fließt es von den Sternen <80> herab, steigt aus den Thalgründen auf, und klingt zu Einem kaum hörbaren Etwas zusammen. Es ist nicht Schwirren, es ist nicht Tönen, was die weite Atmosphäre erfüllt: doch sie ist da, diese Musik der Nacht, für die es keinen Namen giebt - keiner kann sie wegläugnen, der sie einmal belauscht.

Den Weltschmerz und die Zerrissenheit der Jugend seiner Zeit hat auch Chopin wie kein anderer Componist ausgesprochen. Ironisch hat er diese Empfindungen in seine zahlreichen Mazurken ausgegossen, die aber von Tänzen nichts als den Namen und Dreivierteltakt haben.

[e. Sigismund Thalberg]

Beliebter beim größern Publikum als Chopins Compositionen, sind ihres Glanzes und ihrer leichtern Faßlichkeit wegen die von Thalberg, welche mehr den <81> Fingern der Spieler, als dem Begriff der Hörer Anstrengung zumuthen. Sie sind ohne Geist, aber voller Anmuth, und verrathen weniger Erfindung als geschickte Bearbeitung. Das leichte, fröhliche Element süddeutscher, eigentlich Wienerischer Eleganz und Lebenslust spiegelt sich darin. Es sind treffliche Saloncompositionen, und als solche wohl kaum bisher überboten.

[f. Adolf Henselt]

Zwischen Tahlberg und Chopin mitten inne steht Adolf Henselt, gediegener als der erste, minder genial als der zweite, von jedem aber einen kleinen Antheil der Vorzüge vereinigend. Gleich Chopin schildert er Naturbilder, aber nicht ihren schauerlichen Räthselzauber, sondern nur die schimmernde oberflächliche Erscheinung. Aus der unerschöpften Tiefe der schmerzlichsten Gefühle nimmt er die vergiftete Pfeilspitze <82> hinweg, und zeigt uns nur höchstens ein helles Blutströpfchen aus einer schneeweißen Brust. So gleißend wie Thalbergs Raketenpassagen sind die seinigen auch nicht, aber sie beruhen auf einer durchdachten harmonischen Grundlage.

Eine Eigenheit Henselts, die Viele ihm nachahmen, sind die fremdartigen, übermäßig mit Kreuzen und Been belasteten Tonarten, die er wählt, und wodurch (man kann es nicht läugnen) mancher gewöhnlichere Gedanke origineller scheint, als er wirklich ist. Diese Unart erschwert ohne Noth den Dilettanten manches populäre Stück. Man sollte wirklich das heilige Des-dur, das tragische As- und Es-mol, das in dunkeln Purpur gehüllte Fis-dur nicht so für jede Lappalie mißbrauchen; dieser Frevel beraubt die genannten Tonarten nach und nach ihres Nimbus; sie werden gewöhnlich wie G und D, und für Geistererscheinungen und große Affekte wird den Componisten <83> ihr bequemstes Mittel weggefischt. Man ist jetzt schon so verwöhnt, daß Einem oft eine wirklich achtungswürdige Composition, die in einer schlichten Tonart auftritt und nur durch den innern Gehalt etwas gelten will, neben einer minder geistvollen, die mit Doppelkreuzen und Been gewürzt ist, auf den ersten Augenblick flach und arm erscheint. Es (dieß) ist dieß ein ganz ähnliches Begegniß, wie man es häufig auf den Kunstausstellungen erfährt. Fast alle Landschaften prangen in rother Abendbeleuchtung oder empfangen ein zerrissenes Licht durch die Lücke einer Gewitterwolke. Sieht man daneben eine vortreffliche Composition mit einem natürlichen Grün im gesunden Tageslicht, so bracht das Auge lange Zeit, bis es erkennt, daß diese ächte Wahrheit und die früher gesehenen nur Blendung waren.

[g. Ludwig van Beethoven]

<84>Beethovens größere Claviersonaten, die einzig und unvergleichbar dastehen, keiner Zeit und Moderichtung angehören, sollte das letzte Studium des ausgebildeten Spielers sein, das er erst dann unternimmt, wenn er sich selbst Rechenschaft von dem darin wohnenden Geiste geben kann.

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