Kinkel, Briefe

Kinkel: Acht Briefe über Klavierunterricht

6. Brief [Bildung des musikalischen Geschmacks]

<45> Ein Zuwachs an musicirenden Individuen wäre der Kunstwelt jetzt eigentlich weniger vonnöthen, als eine Vermehrung derjenigen, die Musik wahrhaftig zu genießen und zu beurtheilen verstünden. Seit Anbeginn der Musikgeschichte ist man dasselbe Geschwätz von den Dilettanten gewöhnt, daß mit irgend einem Götzen der Gipfel erreicht sei, und daß die Modernen nicht mehr komponieren könnten. Schade, daß durch diese musikalische Kleinstädterei so manches Talent zu Tode gedrückt wird.

<46> Alle, welche unfähig sind, die Kunst im Ganzen und Großen zu überschauen, heften sich an die Namen berühmter Personen. Die sogenannten Leitkenner in den kleinen Städten, denen das Publikum blindlings nachplaudert, kreiren sich gewöhnlich ein paar musikalische Honoratioren, worunter Beethoven stets obenan stehen muß, mit denen sie es allein für schicklich halten, umzugehen, und jeder Musiker büßt bei ihnen an Vornehmheit ein, der die musikalische Menschheit daneben in ihrer Würde bestehen läßt. Sie pflegen sehr salbungsvoll von den vielen "falschen Quinten" zu reden, die man bei den modernen Componisten finden soll, indem ihnen etwas vorschwebt, was sie einmal von zwei reinen Quintenfortschreitungen gehört haben. Die Kinder der "Leitkenner" werden in dieser komischen Hochnäsigkeit geboren und erzogen und wollen schon, ehe sie die Tonleitern begriffen haben, die Sonate pathétique spielen.

<47> Damit die folgende Generation nicht denselben Alpdruck vererbt erhalte, unter dem wir während unseres Strebens geseufzt haben, wäre es das beste Mittel, die Kenntniß der Musikgeschichte in weitern Kreisen einzuführen. Nicht die genauen Kenner des Alten sind es, die sich feindselig dem Neuen entgegenstemmen, sondern immer die Unwissenden und Nichtskönner. Die Leute, die am heftigsten auf den Sebastian Bach schwören, und vorgeben, nichts lieber als eine Fuge zu hören, sind die, welche, wenn man ihnen ein Vorspiel nebst Fuge aus dem wohltemporirten Clavier spielt, ganz ernsthaft sagen: "Die erste Fuge hat mir am besten gefallen, die zweite war nicht so schön."

Unter der vermeintlichen ersten Fuge verstehen sie das Vorspiel, welches sie seiner populären Läufe wegen besser begreifen, als die wirkliche Fuge. Dieß <48> Curiosum ist mir fast jedesmal vorgekommen, wenn ich einem Leitkenner ein Präludium nebst Fuge von Bach vorspielte.

Tadelst Du das Mindeste an einer Beethoven'schen Composition aus den triftigsten Gründen, so sind sie unverschämt genug, Dir vorzuhalten, daß erst die künftige Generation befähigt sein werde, diesen Meister ganz zu verstehen; spielst Du ihnen aber ein wenig bekanntes Stück des großen Meisters anonym vor, so finden sie es "sehr trivial".

Das alles zerfällt in sich selbst, wenn man den geschichtlichen Gang der Musik verfolgt. Wie oft zeigen uns die vergangenen Jahrhunderte einen scheinbaren obersten Höhepunkt, von dem aus die Zeitgenossen kein Aufwärts mehr annehmen, und wie hat das folgende Jahrhundert stets solchen Aberglauben zu Schanden gemacht! Eben so sicher ist es, daß der Geist, den ein Componist am frappantesten <49> darstellt, Geist einer ganzen Epoche ist, und daß sich beide in steter Wechselwirkung gegenseitig anregen.

Wollen wir ein gerechtes Urtheil über einen Meister, so müssen wir die Werke seiner Zeitgenossen und die verbindenden Glieder, die eine Epoche an die andere knüpfen, eben so gründlich studiren, als die Werke, die ausschließlich seinen Namen tragen. Es verschwindet uns dann freilich der Nimbus eines einzelnen Hauptes, aber wir gewinnen dafür ein Ganzes und Allgemeines.

Du wirst entgegnen, daß die Zeit eines Schülers, der die Musik als ein Nebenfach betreibt, nicht ausreiche, ihm einen Ueberblick über deren Gesammtgebiet zu verschaffen, ohne seine Fortschritte im Spielen zu schmälern. Indeß bedenke, daß es wichtiger ist, den Schüler zu einem wirklich musikalischen Menschen zu bilden, als die Zahl der Claviervirtuosen <50> zu vermehren, denn diese sind nächst den Bravoursängern wohl die unmusikalischsten Personen auf der Welt.

Ein Claviervirtuose verbraucht fast alle seine Zeit, um die Geschwindigkeit der Finger zu erlangen, welche zu seinen unaussprechlich schweren und sonst völlig werthlosen Kunststücken nöthig ist. Daneben erwirbt er sich selten Verständniß und Urtheil, denn durch den ausschließlichen Verkehr mit dem Allerkleinlichsten der Kunst, wird er stumpf und gleichgültig gegen ihr Höchstes, wenn es ihm einmal entgegentritt. Solchen bloßen Techniker sind meist die eitelsten, fadesten, unleidlichsten Personen, denen sich der ganze Sternenhimmel nur um ihre Läufe und Triller zu drehen scheint. Der erhabenste Gedanke läßt sie kalt, weil er nicht in Vierundsechzigsteln ausgedrückt ist, und sie halten jeden für einen Heuchler, der eine so einfache Musik entzückend findet. Ueber die Entstehung der <51> Musik, ihre Entwicklung, ihren Zusammenhang mit den andern Erscheinungen auf künstlerischen Gebieten haben sie nie nachgedacht - genug für sie, daß das Clavier erfunden ist; damit ist ihre Wißbegier hinlänglich gestillt. Mir sind concertgebende Virtuosen vorgekommen, die den Namen Händel nie gehört hatten. Einer, welcher in der Meinung war, es sei ein neuer Componist, äußerte, als er zuerst eine seiner Compositionen hörte: dieser junge Mann werde wohl wenig Glück in der Welt machen.

Wenn Jeder, der täglich ein paar Stunden auf die musikalische Technik verwendet, davon nur eine halbe dem Studium der Geschichte seiner Kunst zuwendete, so würde sich die kleine Einbuße an Fingergeschwindigkeit reichlich belohnen. Unsere Dilettanten sollten doch einsehen, wie lächerlich es ist, den Virtuosen nachzuäffen, und lieber ihren Ehrgeiz auf den wissenschaftlichen Theil der Musik richten.

<52> Wer aber weiter nichts will, als ein paar Clavierstücke spielen lernen, der sollte sich mindestens allen Urtheilens und Mitsprechens enthalten, um nicht eine unsäglich lächerliche Figur abzugeben.

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