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Czerny: Briefe über den Unterricht ...

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Zweyter Brief.

(Zwey Monathe später.)

Über Anschlag, Ton und Behandlung des Pianoforte.

<10> Mein Fräulein!

So eben empfange ich Ihr liebes Briefchen, und erfahre aus demselben, dass Sie bereits im Notenlesen recht gute Fortschritte gemacht haben, und die ersten, leichtesten Stückchen zwar langsam, aber ziemlich verständlich spielen können.

Fahren Sie nun fort, täglich ein paar neue Stückchen zu entziffern, und nebstbey die schon erlernten immer noch fort zu üben, so dass diese letztern immer geschwinder gehen, und dass Sie dazu in jeder Woche wenigstens zwey Neue einstudieren. Denn da Sie den ernstlichen Wunsch haben, sich auf dem Fortepiano bis zu einem recht hohen Grade auszubilden, so müssen Sie alles, was Ihnen jetzt aufgegeben wird, nur als Mittel zu diesem Zweck ansehen, und zwar als diejenigen Mittel, welche so schnell und so angenehm als möglich zum Ziele führen. Ich habe daher, mit Ihrer Erlaubniss, <11> ein wenig darüber lachen müssen, dass Sie mir klagen, wie sehr Ihr Lehrer Sie mit den Fingerübungen, mit den Regeln des Anschlags, der Handhaltung, der Deutlichkeit und Geläufigkeit u.s.w. plagt und quält.

"Ach!" rufen Sie recht rührend aus, "muss denn Alles dieses so seyn?"

Ja, mein Fräulein, ich kann Ihnen nicht helfen, aber Ihr würdiger Lehrer hat vollkommen recht, dass er in allem diesem so streng ist, und ich werde Ihnen den Grund davon sagen.

Aus jedem musikalischen Instrumente kann man einen schönen, oder auch einen hässlichen Ton hervorbringen, je nachdem man es behandelt. Dieselbe gute Violine, welche unter der Hand eines geschickten Spielers ganz herrlich klingt, kann, von ungeschickten Händen gespielt, einen so garstigen Ton geben, als ob junge Katzen sängen.

Eben so ist es auf dem Fortepiano. Wenn es vom Spieler misshandelt wird, und wenn man darauf hackt und schlägt, so klingt auch das beste Instrument hart und unangenehm. Wendet man dagegen zu wenig Kraft an, oder weiss man diese Kraft nicht zweckmässig zu gebrauchen, so wird auch der Ton matt und leer, und das Spiel undeutlich, ohne Seele und Ausdruck.

Die innere Mechanik der Tasten ist dergestalt zusammen gesetzt, dass die Saiten nur dann schön klingen, wenn man

  1. <12> jede Taste senkrecht, dass heisst von oben herab, genau in der Mitte (und also ja nicht schief und seitwärts) anschlägt;
  2. wenn man jede Taste beym Anschlage so fest hinabdrückt, dass der ganze volle Ton hörbar wird;
  3. wenn man den Finger vor dem Anschlage nicht zu hoch hebt, weil sonst nebst dem Ton auch noch der Schlag auf die Taste gehört würde;
  4. wenn die Hand und der Arm, selbst bey sehr kräftigem Anschlage, keine hüpfende, hackende oder schaukelnde Bewegung macht.
    Denn Sie werden einsehen, mein Fräulein, dass die Finger unmöglich schön und ruhig spielen können, wenn die Hand und der Arm unruhig ist;
  5. endlich, wenn der Spieler alle diese Regeln selbst bey schnellen Läufen, ja auch bey Sprüngen und Spannungen eben so genau beobachtet, wie bey den ruhigen und langsamen Stellen.

Alle Fingerübungen, und besonders die Scalen (Tonleitern) haben keinen andern Zweck, als den Fingern die Anwendung dieser Regeln so fest anzugewöhnen, dass der Spieler alles, was er in der Folge einstudiert, streng nach diesen Grundsätzen vortrage.

<13> "Ach die Scalen!" (schreiben Sie mir), "das ist vollends gar eine langweilige Geschichte! Sind denn diese Dinge wirklich so nothwendig, wie mein Lehrer sagt?"

Ja, Fräulein Cäcilie, diese Scalen sind das Nothwendigste, nicht nur für den Anfänger, sondern auch für den schon sehr vorgerückten Schüler, und selbst der geübteste Spieler kann und muss sie noch benützen und üben. Erlauben Sie, dass ich Ihnen dieses beweise, da ich weiss, dass Sie verständig sind, und auch gerne nachdenken.

Sie wissen bereits, dass das Untersetzen des Daumens unter die andern Finger, und das Ueberschlagen der drey mittlern Finger über den Daumen durchaus nothwendig, und das einzige Mittel ist, um eine grössere Reihe von Tasten schnell nacheinander anzuschlagen.

Aber dieses Untersetzen und Ueberschlagen muss, selbst in der grössten Schnelligkeit, so natürlich, gleich, und ungezwungen Statt finden, dass der Zuhörer dabei nicht die geringste Unterbrechung oder Ungleichheit höre.

Das ist fast die grösste Schwierigkeit des Fortepianospiels, und nur dann möglich, wenn dabey weder der Arm, noch die Hand die geringste Bewegung seitwärts oder aufwärts macht, und wenn die Gelenke aller Finger durch grosse Uebung nach und nach so viele Biegsamkeit und Geschmeidigkeit erlangen, <14> dass man bey einem schnellen Laufe über die Tastatur glauben sollte, der Spieler habe wenigstens 50 Finger an jeder Hand. Um nun diese höchst nothwendige Eigenschaft zu erlangen, gibt es kein anderes Mittel, als - das fleissigste unausgesetzte tägliche Ueben der Scalen in allen Tonarten, so wie Sie dieselben in meiner Fortepianoschule zusammen gestellt, und mit den nöthigen Anmerkungen unterstützt finden.

Aber die Scalen haben noch manchen andern mehrseitigen Nutzen, nähmlich:

Es gibt wenig Tonstücke, in welchen sie nicht vom Autor auf irgend eine Art benützt und angebracht zu finden wären. Sie sind in jeder Composition, (mag diese heute, oder schon vor 100 Jahren geschrieben worden seyn,) das vorzüglichste Hilfsmittel, aus welchem jede Melodie und jede Passage gebildet wird.

Die Diatonische Scala, oder die gebrochenen Accorde werden Sie demnach überall unzähligemal angewendet finden.

Nun können Sie sich leicht denken, Fräulein, welche Vortheile es dem Spieler verschafft, wenn er diese Fundamentalpassagen, aus welchen alle Andern gebildet werden, in allen Tonarten gut inne hat, und welche Herrschaft über die ganze Tastatur, welche leichte Uebersicht über jedes Tonstück er dadurch gewinnt! Ferner gibt es für den Spieler keine <15> nothwendigere und wichtigere Eigenschaft, als eine wohlentwickelte grosse Geläufigkeit, Leichtigkeit und Geschwindigkeit der Finger. Diese kann durch nichts so schnell erreicht werden, als durch das Ueben dieser Scalen. Denn würde man dieselbe erst durch das Einstudieren der verschiedenen Tonstücke zu erlangen suchen, so hätte man Jahrelang zu thun, um diesen Zweck zu erreichen. Es gibt so viele schöne Compositionen, welche in einem sehr schnellen Zeitmasse, und mit grosser Geschwindigkeit vorgetragen werden müssen. Wie hässlich und langweilig würden diese aber klingen, wenn man sie langsam, steif und holprig ausführte! Und selbst solche Tonstücke, welche im Ganzen langsam gehen, enthalten sehr häufig einzelne Läufe und Verzierungen, welche eine grosse Geschwindigkeit erfordern. Alles dieses hat aber Derjenige schon im Voraus überwunden, der die Scalen gut und schnell zu spielen vermag.

Bis jetzt können Sie, Fräulein Cäcilie, sich noch gar keine Idee von der Schönheit und guten Wirkung machen, welche eine reine, deutliche, geschwinde und streng gleiche Ausführung dieser Läufe hervorbringt: es sind musikalische Perlenschnüre, und viele grosse Künstler sind vorzugsweise berühmt wegen der besondern Virtuosität in deren Vortrag.

<16> Ferner haben Sie schon gewiss bemerkt, dass die richtige Fingersetzung ein sehr wichtiger Theil des Clavierspiels ist, welcher jedem Schüler grosse Mühe macht. Nun enthalten aber die Scalen, alle Grundregeln des Fingersatzes, und reichen allein schon hin, dem Spieler in den meisten Fällen die rechte Bahn zu zeigen.

Was sagen Sie zu allen diesen Vortheilen?

Da ist es doch wohl der Mühe werth, sich mit diesen langweiligen Scalen ernstlich zu beschäftigen?

Nun muss ich Ihnen auch sagen, auf welche Art Sie dieses thun müssen.

Denn falsch einstudiert, können diese Scalen eben so sehr schaden, als sie sonst zu nützen geeignet sind.

Sie wissen, Fräulein, dass die fünf Finger einander an natürlicher Kraft bey weitem nicht gleich sind. So, z.B. ist der Daumen viel kräftiger als alle Andere. Der zweite Finger ist viel stärker als der Kleine und der vierte Finger ist dagegen fast bey Jedermann der schwächste von Allen.

Nun muss aber der Pianist diese verschiedenen Kräfte so zu gebrauchen wissen, dass alle Finger bey den Scalen, ihre Tasten mit ganz gleicher Stärke anschlagen.

Denn diese Scalen klingen nur dann schön, wenn sie in jeder Hinsicht mit der vollkommensten Gleichheit vorgetragen werden.

<17> Diese Gleichheit ist aber dreifach; nämlich.

  1. Die Gleichheit der Stärke:
    Kein Ton darf auch nicht im Geringsten stärker klingen, als der andere; man mag ihn nun mit dem Daumen oder mit dem 2. 3., 4., oder dem kleinen Finger anschlagen.
  2. Die Gleichheit der Geschwindigkeit:
    Ein jeder Ton muss dem andern streng im gleichsten Zeitmaasse nachfolgen, man mag nun die Scalen langsam oder schnell spielen.
  3. endlich, die Gleichheit der Haltung:
    Keine Taste darf länger oder kürzer gehalten werden als die Andere; das heisst: jeder Finger muss seine Taste nur so lange fest halten, bis der nächstfolgende anschlägt, und dann genau in demselben Augenblicke aufgehoben werden, wenn der nächstfolgende Finger seine Taste berührt. Dieses muss natürlicherweise auch beym Untersetzen und Ueberschlagen beobachtet werden.

Wenn man auch nur gegen Eine von diesen drey Hauptregeln sündigt, so ist die Gleichheit und Schönheit eines jeden Laufs gestört, und der Nutzen des Exerzierens verloren.

Sie müssen daher jede Scala, (nach der, in meiner Schule gegebenen Ordnung, und folglich zuerst mit der rechten Hand allein, und sodann <18> mit beyden Händen), anfangs äusserst langsam üben, und stets das Urtheil Ihres Lehrers und Ihr eigenes gutes Gehör zu Rathe ziehen, ob die Finger alle Regeln gehorsam beobachten. Von Woche zu Woche müssen Sie die Geschwindigkeit steigern, bis endlich alle Finger mit Leichtigkeit, Festigkeit und schönem, deutlichem Vortrag, über die Tasten zu fliegen im Stande sind. Täglich, wenn Sie sich zum Fortepiano setzen, müssen die Scalen das Erste seyn, was Sie durch eine halbe Stunde vornehmen, indem dadurch die Finger zu allem Uebrigen fähig gemacht werden.

Aber nun will ich Sie heute nicht länger plagen. Indem ich hoffe, bald wieder Nachricht von Ihren weitern Fortschritten zu erhalten, verbleibe ich, Fräulein,

Ihr

etc. etc.

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