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Czerny: Briefe über den Unterricht

Die Briefe 7-9 sind noch nicht erfaßt.

Zehnter und letzter Brief.

Über das Improvisieren.

<78> Fräulein Cäcilie!

Sie wissen, dass die Musik gewissermassen eine Art Sprache ist, durch welche die Empfindungen und Gefühle ausgedrückt werden können, welche das Gemüth erfüllen oder bewegen. Eben so ist Ihnen bekannt, dass man auf einem musikalischen Instrumente, und vorzüglich auf dem Fortepiano, Vieles ausführen kann, was weder vorher aufgeschrieben, noch einstudiert und vorbereitet worden, sondern was blos die Frucht einer augenblicklichen und zufälligen Eingebung ist. Man nennt dieses: Fantasieren, oder Improvisieren.

Solche Improvisationen können und sollen natürlicherweise nicht die strenge Form einer geschriebenen Composition haben; allein eben das Freye und Ungezwungene verleiht denselben einen besondern Reiz, und mehrere berühmte Meister, wie Beethoven und Hummel, haben sich vorzugsweise in dieser Kunst ausgezeichnet.

<79> Obwohl hiezu, wie zur Musik überhaupt, natürliches Talent gehört, so kann das Fantasieren doch auch nach gewissen Grundsätzen studiert, angewöhnt, und geübt werden, und ich bin überzeugt, dass Jedermann, der im Spielen eine mehr als mittelmässige Stufe erreicht hat, auch der Kunst des Improvisierens, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, nicht unfähig ist. Aber hiezu gehört auch, dass man bey Zeiten sich darin zu üben anfange, (was leider die meisten Spieler versäumen,) und dass man unverdrossen die sich stets vermehrende Erfahrung, welche man durch das Einstudieren zahlreicher fremder Compositionen gewinnt, auch auf das eigene Fantasieren anzuwenden lerne.

Jetzt, wo Ihr Spiel so bedeutend ausgebildet ist, und wo Sie auch im Generalbass vorzurücken anfangen, sollten Sie es versuchen, bisweilen allein, oder in Gegenwart Ihres Lehrers, leichtere Accorde, kleine Melodien, Passagen, Scalen, gebrochene Accorde etc., zusammenzustellen, oder vielmehr es Ihren Fingern überlassen, diese Zusammenstellung willkührlich zu bewirken. Denn das Improvisieren hat das Sonderbare und beinahe Räthselhafte an sich, dass das Nachdenken und die Anstrengung dabey fast gar nichts nützt.

Man muss es beynahe immer nur den Fingern und dem Zufalle überlassen.

<80> Anfangs wird es Ihnen ziemlich schwer fallen; es wird unzusammenhängend, wohl auch unrichtig klingen; Sie werden den Muth und die Zuversicht verlieren, welche hiezu vorzüglich nöthig sind. Wenn Sie sich aber dadurch nicht abschrecken lassen, und täglich diese Versuche wiederhohlen, so werden Sie von Woche zu Woche Ihre Fähigkeit sich immer mehr entwickeln sehen, und bey erweiterter Kenntniss des Generalbasses werden Sie auch die harmonischen Fehler bald vermeiden lernen.

Zuerst müssen Sie sich in kurzen Sätzen versuchen, welche den Vorspielen oder Cadenzen ungefähr gleich kommen. Nach und nach trachten Sie dieselben zu erweitern, indem Sie längere Melodien, brillante Passagen, arpeggirte Accorde u.s.w., einflechten. Wenn Sie, in Ermanglung eigener Ideen, hiezu solche benützen, welche Sie früher in andern Tonstücken kennen gelernt haben, so ist das ein sehr erlaubtes Hilfsmittel.

Die Scalenpassagen und deren Uebergangsaccorde sind auch hier ein gutes Ausfüllungsmittel, so lange dem Spieler keine melodiöse Idee einfällt.

Sie wissen, dass jede Musik sich auf einfache Accorde zurückführen lässt. Eben so dienen umgekehrt die einfachen Accorde zur Grundlage, um darauf alle Arten von Melodien, Passagen, <81> Sprüngen, Verzierungen u.s.w., zu erfinden und auszuführen.

Wenn Sie eine geraume Zeit unausgesetzt einer zweckmässigen Uebung auf die hier angezeigte Weise gewidmet haben werden, so werden Sie sicher selber erstaunen, welcher Ausbildung und Vielseitigkeit das Improvisationstalent fähig ist.

Sie werden finden, dass fast alle in der Composition gebräuchlichen Formen auch im Fantasieren anwendbar sind.

Man kann Variationen auf ein selbstgewähltes oder auch aufgegebenes Thema improvisieren.

Man kann sehr interessante Pot-Pourris aus mehreren beliebten Motiven zusammenstellen, und durch brillante Passagen zu einem glänzenden Tonstück verbinden.

Man kann sogar im strengern vierstimmigen Satz, oder im fugirten Style sich improvisierend auszeichnen u.s.w.

Aber zu allem diesem gehört:

Eine grosse und gut ausgebildete Fertigkeit und Geläufigkeit der Finger, so wie vollkommene Herrschaft über alle Tonarten und über alle Schwierigkeiten.

Denn sie können sich leicht denken, Fräulein, dass das glücklichste Talent nichts nützt, wenn die Finger unfähig sind, demselben zu gehorchen und nachzufolgen.

<82> Ferner eine grosse Belesenheit in den Compositionen aller guten Tonsetzer; denn nur durch diese wird das eigene Talent erweckt, gebildet, und zum eigenen Hervorbringen gestärkt.

Dann noch, wie Sie wissen, eine gründliche praktische Kenntniss der Harmonielehre, - und endlich, - was ich noch einmal wiederhohle, - der eigene, unverdrossene, zweckmässig angewandte Fleiss.

Darum, mein Fräulein, versuchen Sie sich muthig und munter auch in diesem, sehr ehrenvollen Zweige der Kunst! Ist die Mühe auch gross, so ist die Freude und die Belohnung noch grösser, die man dadurch gewinnen kann.

Und nun, Fräulein Cäcilie, verkünde ich Ihnen zu Ihrem Erschrecken, dass ich bald in die Gegend Ihres Aufenthalts kommen, Sie besuchen, und mit strenger Richtermiene mich in eigener Person von Ihrem Fleisse überzeugen will. Dass Sie sich desshalb einstweilen recht fürchten werden, finde ich ganz in der Ordnung.

Ich aber schliesse nun die Correspondenz, mit welcher ich Sie so lange peinigte, und freue mich auf den Augenblick, wo ich persönlich die unbezweifelte vollkommene Ausbildung Ihres schönen Talents werde bewundern können.

Genehmigen Sie also zum Letztenmale die schriftliche Versicherung der Ergebenheit

Ihres etc.

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